
Ukraine-Krieg: Bedrohliche Lage für dortige Atomkraftwerke
- Hintergrund
(Dieser Artikel wird laufend aktualisiert, die Ursprungsversion wurde am 2. März 2022 veröffentlicht.)
Inmitten des furchtbaren Angriffskrieges auf die Ukraine stellen die 15 Atomreaktoren des Landes eine weitere massive Bedrohung für das Land dar. Im Katastrophenfall wären auch die europäischen Nachbarstaaten betroffen. Insbesondere das AKW Saporischschja, das größte Europas, steht seit Beginn des Krieges immer wieder im Mittelpunkt von Kampfhandlungen. Ein Jahr nach seiner Besetzung durch russische Truppen zieht Greenpeace eine vorläufige Bilanz.
Am 4. März 2023 jährte sich die völkerrechtswidrige Besetzung des Kraftwerks Saporischschja, nach wie vor wird es von den Invasoren kontrolliert. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass militärische Angriffe laufende Atomreaktoren direkt angegriffen und beschädigt haben, immer wieder ist die Anlage extrem sicherheitskritischen Situationen ausgesetzt. Internationale Beobachter sind sich einig: Gehen die Kämpfe um Saporischschja unvermindert weiter, stehen die Ukraine und Europa am Rand einer Nuklearkatastrophe.
Nach einem großflächigen russischen Raketenangriffs in der Nacht zum 9. März 2023 war das Atomkraftwerk Saporischschja erneut vorübergehend von der regulären Stromversorgung abgeschnitten. Das AKW ging damit zum sechsten Mal seit Beginn des Krieges in den Notbetrieb, die von der russischen Armee besetzte Anlage wurde über Dieselgeneratoren notversorgt. Am Nachmittag wurde die externe Stromversorgung wieder hergestellt, so der staatliche Energieversorger Ukrenerho. Bei einem Ausfall kann das Kraftwerk zehn Tage lang mit Dieselgeneratoren betrieben werden, die die Kühlung der Reaktoren gewährleisten. Heinz Smital, Greenpeace-Experte für Atomenergie, sprach anlässlich des Ausfalls mit WDR 5.
Bilanz nach einem Jahr Besetzung
Ein aktueller Greenpeace-Report analysiert das Jahr der Besetzung, legt Schwachstellen der Anlage dar und fordert Konsequenzen. “Wir brauchen einen Stress-Test für Atomanlagen durch kriegerische Ereignisse”, sagt Smital. Die könnten vergleichbar zum Europäischen Stresstest durchgeführt werden, der nach dem Reaktorunfall von Fukushima stattfand.
Die Ukraine deckt ihren Strombedarf vorwiegend aus Atomkraftwerken, sie liefern rund die Hälfte der Elektrizität des Landes. Viele Blöcke wurden allerdings in den Kriegsmonaten abgeschaltet und der Betrieb eingeschränkt. Das zeigt: Der Betrieb von Atomkraftwerken ist mit großen Risiken verbunden, die Anlagen tragen somit nicht zur Versorgungssicherheit bei.
Atomanlagen sind nicht für Kriege ausgelegt
Ein wichtiger, allgemeiner Schluss der Untersuchung lautet: Angriffe und anschließende Besetzungen, wie sie derzeit in Atomanlagen in der Ukraine stattfinden, sind in jedem AKW auf jedem Kontinent möglich. Gerade bei geplanten Restlaufzeiten von bis zu 60 Jahren und darüber hinaus können kriegerische Handlungen gegen kerntechnische Anlagen nicht ausgeschlossen werden.
Ein Beispiel: Bereits 1991 kam es im Slowenischen Unabhängigkeitskrieg zu kriegerischen Auseinandersetzungen um ein Atomkraftwerk in Europa. Am 2. Juli wurde das slowenische AKW Krsko wegen anrückenden serbischen Panzern abgeschaltet. Die Kampfhandlungen in Slowenien 1991 dauerten nur zehn Tage und ließen die Anlage unbeschädigt. Der Vorfall zeigt aber, dass kriegerische Auseinandersetzungen um Atomkraftwerke bereits vorgekommen sind – und immer wieder geschehen können.
Sanktionen gegen den russischen Nuklearsektor nötig
Greenpeace fordert Sanktionen gegen den russischen Nuklearsektor, insbesondere den Staatskonzern Rosatom, der erheblich dazu beiträgt, dass die Sicherheitslage in Saporischschja derart prekär ist. Die Bewertungen von Greenpeace kommen zu einem eindeutigen Schluss: Nur ein Ende des Krieges, und damit der vollständige Abzug der russischen Streitkräfte sowie des gesamten Rosatom-Personals, garantiert die Sicherheit der Anlage. Bislang wurde der russische Staatskonzern von internationalen Sanktionen verschont und setzt seinen Nuklearhandel mit Europa und dem Rest der Welt fort. Dabei ist klar, dass das Unternehmen an der Beschlagnahmung und Besetzung der Reaktoren in Saporischschja beteiligt war.
Das vorliegende Briefing enthält eine Zeitleiste der nuklearen Risikomomente während des ersten Jahres der Besetzung, leitet Erkenntnisse für die Sicherheit weltweit betriebener Atomkraftwerke ab und hinterfragt kritisch das zurückhaltende Agieren der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO). Das Papier basiert auf dem täglichen Monitoring von Greenpeace und den fast 150 aktuellen Lageberichten der IAEO.

März: 2022 Beschuss des AKW Saporischschja
In der Nacht auf Freitag, den 4. März 2022, beschossen russische Truppen das Atomkraftwerk Saporischschja, das größte AKW des Landes. Seitdem ist die Anlage unter Kontrolle der russischen Armee.
Nach ukrainischen Angaben haben die russischen Truppen Artillerie auf dem Gelände installiert, um die Anlage zu verteidigen und ukrainische Stellungen anzugreifen. Seit Anfang August kommt es erneut zu Feuergefechten um das Atomkraftwerk. “Wir haben es hier mit einer neuen Dimension der Kriegsführung zu tun”, sagte Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital in einem ZDF-Beitrag am 4. August, weil “erstmals die große Gefahr, die von Atomkraftwerken ausgeht, ins militärische Kalkül einbezogen wird.” Die russische Armee baut den Kraftwerkstandort zu einer Militärbasis aus und nutzt ihn als Schutzschild. Eine enorm riskante Rechnung: “Wenn hier ein schwerer Schaden passiert, hat man einen Super-GAU, dann gibt es großflächige radioaktive Belastungen, die auch Europa betreffen können”, so Smital weiter. Ukraine und Russland schieben sich gegenseitig die Verantwortung für den Ausbruch der Kampfhandlungen zu.
Die Vorfälle zeigen, welchen Risiken die Bevölkerung durch Atomkraft ausgesetzt ist – in Friedens- wie in Kriegszeiten: “Putins Invasion setzt die Gesundheit der Menschen in Europa aufs Spiel. Ein Atomkraftwerk zu beschießen ist unverantwortlicher Wahnsinn. Tschernobyl und Fukushima haben gezeigt, welche katastrophalen Folgen die Kernschmelze von Reaktoren haben kann: zehntausende Menschen werden verstrahlt, weite Landstriche für Jahrzehnte unbewohnbar.”
Forderung an die Bundesregierung
Die wachsende Gefahr einer atomaren Katastrophe weckt Erinnerungen an das Tschornobyl-Unglück. „Ein nuklearer Unfall in Saporischschja muss um jeden Preis vermieden werden. Das bedeutet, dass Russland seine Militäroperationen im Atomkraftwerk sofort einstellen muss, dass die Kämpfe dort beendet werden müssen und dass das russische Militär die Besetzung des Geländes beenden und seine Truppen abziehen muss“, sagt Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand von Greenpeace Deutschland. „Die ukrainische Regierung und der Generalsekretär der Vereinten Nationen haben die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone um Saporischschja gefordert, was Greenpeace voll unterstützt.“
Russland und die Ukraine können unter internationaler Vermittlung Vereinbarungen treffen – das habe das Getreideabkommen gezeigt. Doch dafür muss die Bundespolitik ihren Einfluss geltend machen: „Die deutsche Regierung muss ihre Möglichkeiten stärker nutzen, um ein Abkommen zur Sicherung der ukrainischen Atomanlagen zu erreichen, das auch die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone aktiv unterstützt", so Kaiser weiter.
Greenpeace-Analyse zu atomaren Risiken in der Ukraine

© Vladislav Zalevskiy / Greenpeace
Strahlenmessungen in der Bryansk-Region, 2016
Die Atomanlage in Saporischschja ist mit sechs großen Reaktoren das größte AKW in Europa. Das Atomkraftwerk liegt im Südosten der Ukraine, nahe der Krim. Ein Briefing von Greenpeace warnte im März 2022 angesichts der militärischen Invasion vor einer nie dagewesenen nuklearen Gefährdung. Einige der Reaktoren in Saporischschja sind veraltet, sie wurden bereits in den 1970er Jahren gebaut und konzipiert, ihre ursprüngliche Lebensdauer von 40 Jahren ist bereits verlängert worden.
„Dieser Krieg wird in einem Land geführt, das über mehrere Atomreaktoren und Tausende Tonnen hochradioaktiver abgebrannter Brennelemente verfügt. Die dadurch verursachten Gefahren sind enorm“, sagt Jan Vande Putte, Atomexperte von Greenpeace Belgien. „Solange dieser Krieg andauert, bleibt die militärische Bedrohung der ukrainischen Atomanlagen bestehen. Auch deshalb muss der grausame Krieg gegen die Ukraine sofort beendet werden.“
Das Atomkraftwerk Saporischschja verfügt neben den Reaktoren ebenfalls über sechs Kühlbecken mit hunderten Tonnen hochradioaktiver Kernbrennstoffe. Im Jahr 2020 erzeugte Saporischschja rund 19 Prozent des ukrainischen Strombedarfs. Weder die Reaktorgebäude noch die Becken für abgebrannte Brennelemente sind dafür ausgelegt, dem Einschlag einer Rakete oder Artillerie standzuhalten.
Auch wenn die Anlage nicht direkt beschädigt würde, sind die Reaktoren stark abhängig von einer durchgehenden Stromversorgung für den Betrieb der Kühlsysteme, von der Verfügbarkeit von Nukleartechnikern und weiterem technischen Personal sowie vom Zugang zu schwerem Gerät und Logistik, um die benötigte Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Am 2. März trat auch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) zu einer Dringlichkeitssitzung zur atomaren Krise in der Ukraine zusammen. Die Ukraine forderte von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) dringende Hilfe für die Sicherheit ihrer Nuklearanlagen an. Im Januar 2023 beschloss die IAEO, Mitarbeiter:innen an allen ukrainische Atomkraftwerke zu entsenden, um die Gefahr schwerer Unfälle während des Krieges zu minimieren.
Atomkraftwerke gehören zu den komplexesten und verwundbarsten Industrieanlagen. Sie brauchen 24 Stunden am Tag Strom für die Pumpen und Wasser für die Kühlung des Kernbrennstoffs, sowohl im Reaktor als auch im angrenzenden Becken für abgebrannte Brennelemente. Diesel-Notstromaggregate können aber möglicherweise nicht mehrere Wochen lang laufen, wie es in Kriegszeiten vielleicht nötig ist.
Risiko eines Raketeneinschlags
Selbst wenn der Reaktor abgeschaltet ist, verbleibt im Reaktorkern eine enorme Restwärme, die ständig gekühlt werden muss. Ohne Kühlung beginnt sich das Wasser im Reaktorkern (und im Becken für abgebrannte Brennelemente) zu erhitzen. „Das größte Risiko besteht darin, dass abgebrannte Brennelemente von einer Rakete getroffen werden oder aufgrund des deaktivierten Energiesystems nicht gekühlt werden können“, sagt Roger Spautz, Atomexperte bei Greenpeace Frankreich und Luxemburg.
Auch die AKW Rivne und Khmelnitsky sind bedroht. Bei Rivne 1 und 2 handelt es sich um WWER-440-Druckwasserreaktoren, die nicht über einen sekundären Sicherheitsbehälter verfügen und daher besonders anfällig sind. Ihre Lebensdauer wurde kürzlich bis ins Jahr 2030 beziehungsweise 2031 verlängert, auf insgesamt jeweils 50 Betriebsjahre.
Tschornobyl äußerst heikel

© Daniel Müller / Greenpeace
Der Sarkophag um die Reaktorruine in Tschernobyl
Vom Vormittag des 9. März bis zum 13. März 2022 war das havarierte Kraftwerk Tschornobyl vom Stromnetz abgeschnitten, nach Medienberichten wurde die Stromversorgung am 14. März erneut unterbrochen. Die Atomruine Tschornobyl benötigt allerdings Energie: Es gibt dort den schützenden Sarkophag um die Reaktorruine, der beaufsichtigt werden muss, laufende Rückbauarbeiten, Brennelemente, die noch bis 2000 in Betrieb waren, und Müll, der nicht unkontrolliert bleiben darf. „Wenn die Dieselaggregate auslaufen, kommt es nicht unbedingt unmittelbar zu einer radioaktiven Freisetzung“, sagte Heinz Smital am 9. März 2022. „Selbst wenn sich dann Brennelemente erhitzen, hat man noch Zeit, Maßnahmen zu ergreifen. Das ist bei einem Reaktor, der aus dem Leistungsbetrieb kommt, etwas anderes.“
Nach mehr als einem Monat Unterbrechung flossen wieder Informationen zwischen Tschornobyl und den ukrainischen Behörden: Am 20. April 2022 teilte der Direktor der IAEO Rafael Grossi mit, dass die direkte Kommunikation zwischen dem stillgelegten Kernkraftwerk und der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde wiederhergestellt sei.
Die staatliche Atomaufsichtsbehörde der Ukraine gab bereits Tage zuvor bekannt, dass aufgrund der militärischen Aktivitäten die Radioaktivitätswerte dort angestiegen seien. Soldaten und Fahrzeuge hatten den radioaktiven Staub rund um den 1986 explodierten Reaktor 4 aufgewirbelt.
Zwar sind in Tschornobyl keine Reaktoren mehr in Betrieb, doch lagern in der Umgebung des Atomkraftwerkes große Mengen hochradioaktiver Abfälle, die zum Teil aus den inzwischen stillgelegten Reaktoren 1 bis 3 stammen, sowie aus dem 1986 explodierten Reaktor 4. Dieser ist zwar inzwischen von einem neu gebauten Sarkophag eingehüllt, enthält aber immer noch hochradioaktive Stoffe.
Zudem lagern am Ort radioaktive Abfälle aus den Aufräumarbeiten nach der Atomkatastrophe von 1986. Einige dieser Lagerstätten befinden sich in der Nähe des Flusses Prypjat, der in den Dnipro mündet und einen großen Teil der ukrainischen Bevölkerung, darunter auch die Hauptstadt Kyjiw, mit Trinkwasser versorgt. Der Austritt von Radioaktivität in den Prypjat wäre eine Gefahr für die Trinkwasserversorgung und könnte das Land für sehr lange Zeit destabilisieren.
Waldbrände rund um Tschernobyl
Während der Tschornobyl-Katastrophe 1986 wurden die Wälder in der Region kontaminiert. In den letzten Jahren stellten Messgeräte dort höhere Strahlungswerte in der Atmosphäre durch Waldbrände fest. Ende März 2022 sind im Gebiet um die Atomruine nach Angaben der ukrainischen Behörden erneut Brände ausgebrochen; die Kriegshandlungen erschweren allerdings Löscharbeiten oder machen sie zum Teil unmöglich. Die Kontamination inner- und außerhalb der Sperrzone stellt eine Bedrohung für alle Menschen dar und könnte sich anhand von Großbränden ausbreiten, die durch Explosionen ausgelöst werden könnten.

Briefing von Greenpeace International: The vulnerability of nuclear plants during military conflict
12 | DIN A4
7.1 MB
Herunterladen