AKW Saporischschja: Droht ein atomarer Notfall?
- Ein Artikel von Ortrun Sadik & Mattea Weihe
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Saporischschja, das größte Atomkraftwerk Europas, macht der Welt seit dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine immer wieder Sorgen. Das von Russland gekaperte Atomkraftwerk wurde beschossen und umkämpft. Immer wieder gab es Brände und einen gefährlichen Ausfall der Stromversorgung. Besonders kritisch war auch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms am 6. Juni 2024, der eine Rolle für die Kühlung der Reaktoren von Saporischschja spielt.
Ende September 2025 ist die Hauptleitung des AKW Saporischschja wieder seit Tagen unterbrochen. Und schlimmer noch: Greenpeace beobachtet, dass die russische Seite Vorbereitungen zu treffen scheint, das AKW an das Stromnetz der von Russland besetzten Gebiete anzuschließen. Eventuell planen sie sogar, einen Block wieder hochzufahren. Das würde das Risiko einer atomaren Katastrophe in der Region massiv erhöhen. Greenpeace-Experten beobachten das AKW seit Kriegsbeginn und erklären, was besonders am umkämpften AKW Saporischschja drohen kann, welche Szenarien es gibt und wie man darauf reagieren könnte.
Am 23. September 2025 führen gezielte russische Angriffe zur Zerstörung der einzigen Hochspannungsleitung zum AKW Saporischschja. Seitdem ist das AKW ohne externe Stromversorgung, dieselbetriebene Notstromaggregate halten seitdem die Notversorgung aufrecht - ein Rekordausfall für die Anlage mit sechs Reaktoren an der Frontlinie des Krieges.
„Notstrom-Dieselgeneratoren gelten als letzte Verteidigungslinie, die nur in extremen Situationen zum Einsatz kommen. Das ist zweifellos die schwerwiegendste und wichtigste Situation seit Beginn der Besetzung des AKW Saporischschja durch Russland im März 2022.“
Investigation about the 750 kV power line at Zaporizhzhya Nuclear Power Plant
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The Zaporizhzhia Nuclear Cliff Edge
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HerunterladenRussische Wiederinbetriebnahme?
Neue Satellitenanalysen von Greenpeace Ukraine deuten darauf hin, dass Russland möglicherweise plant, mindestens einen Reaktor trotz der hohen Kriegsrisiken wieder in Betrieb zu nehmen. Zu sehen ist, dass russische Ingenieure derzeit 201 Kilometer Stromleitungen bauen, die Umspannwerke in den besetzten Städten Melitopol und Mariupol verbinden sollen – Baubeginn war im Dezember 2024.
Außerdem hat Russland ein neues Wasserversorgungssystem für das Kühlbecken des Kraftwerks fertiggestellt und eine 750-Kilovolt-Leitung, die das Kraftwerk mit dem ukrainischen Stromnetz verband, absichtlich beschädigt. Das treibt das langfristige Ziel des russischen Staatskonzerns Rosatom voran, das Kraftwerk mit dem illegal besetzten Stromnetz in den Regionen Saporischschja und Donezk zu verbinden und einen Reaktor wieder hochzufahren.
Saporischschja derzeit im Kaltabschaltmodus
Das Atomkraftwerk ist seit der russischen Invasion 2022 unter russischer Kontrolle. Die sechs Reaktoren sind weiterhin mit Uran bestückt, befinden sich jedoch im sogenannten „Kaltabschaltmodus“ – das heißt, die nuklearen Reaktionen sind gestoppt. Dennoch ist das Kraftwerk auf externe Stromversorgung angewiesen, um die Reaktoren zu kühlen und andere Sicherheitssysteme zu betreiben. Diese externe Stromversorgung wurde im Krieg mehrfach unterbrochen, wodurch das Kraftwerk jedes mal auf Dieselgeneratoren angewiesen war.
Die Stadt Saporischschja, etwa 440 Kilometer südöstlich von Kyjiw, wird von der Ukraine gehalten, und es kam zu Angriffen rund um das Kraftwerk, da die Frontlinie nahe liegt.
Feuer am AKW Saporischschja 12. August 2024
Am 12. August 2024 melden die Nachrichten, dass es an den Kühltürmen des AKW Saporischschja brennt. Greenpeace Expert:innen haben sofort hochauflösende Satelliten-Bilder der Brandstelle sowie technische Hintergrundinformationen ausgewertet: Das aktuelle Feuer stellte daher keine direkte Bedrohung für die Sicherheit der Reaktoren dar. Diese sind rund 1,4 km von den Kühltürmen entfernt. Die Kühltürme am Nordufer des Kühlteichs des AKW sind seit September 2022 nicht mehr in Betrieb. Sie wurden zuvor in den Sommermonaten, als die Reaktoren noch liefen, zur Kühlung des nicht radioaktiven Wassers aus dem Kondensator des AKW verwendet. Aktuelle Strahlungsmessungen zeigen darüber hinaus keine Auffälligkeiten.
Messtationen in der SüdukraineWie wahrscheinlich ist eine Kernschmelze?
Generell müssen die Reaktorkerne und die abgebrannten Brennelemente ständig gekühlt werden, um ein Überhitzen und gefährliche Kernschmelzen zu verhindern. Allerdings ist die Gefahr bei einem seit drei Jahren kalt ausgeschalteten AKW lang nicht so hoch wie bei einem laufenden oder einem, das erst vor kurzem abschaltet wurde.
Das liegt daran, dass nach drei Jahren ohne neu initialisierter Kettenreaktion der radioaktive Zerfall bereits deutlich abgesunken ist. Auch sind die Brennelemente nicht mehr so heiß, weshalb Kühlwasser nicht mehr so schnell verdunstet. Deshalb ist es leichter, die Kühlung auch mit Notstromaggregaten noch über einen längeren Zeitpunkt hinweg aufrechtzuerhalten.
Zuständige Stellen vor Ort melden, dass ausreichende Dieselvorräte vor Ort vorhanden sind, um einen langfristigen autonomen Betrieb der Generatoren zu gewährleisten. Nichtsdestotrotz: Auf Wochen ist dieses System nicht ausgerichtet. Notstromaggregate sind nicht für einen Dauerbetrieb ausgelegt. Das Ziel muss deshalb immer sein, Saporischschja so schnell wie möglich wieder mit externen Strom versorgen zu können.
Hauptbedrohung Saporischschja: unzureichende Stromversorgung
Dass es nur eine Hauptstromleitung gibt bzw. gab, war schon lange die Achillesferse des AKW Saporischschja. Denn ohne Strom ist es nicht möglich, den Kernbrennstoff und die Becken für abgebrannte Brennelemente am Standort zu kühlen.
Aber es gibt weitere Szenarien, die zu einem nuklearen Notfall führen könnten und unter der aktuellen Besatzung besorgniserregend sind. Künftige Sabotageakte der russischen Armee nicht nur an der Stromversorgung, sondern auch an den Kühlwasserbehältern können nicht ausgeschlossen werden und stellen eine ernsthafte Bedrohung dar. Eine gezielte Beschädigung der Abklingbecken oder des Sicherheitsbehälters könnte zu schwerer Kontamination führen. Eine Kombination dieser Faktoren könnte zu katastrophalen Ereignissen führen, ohne die Möglichkeit, den Unfall zu stoppen.
"Wenn man den Strom zur Kühlung des Reaktors verliert, würde sich das Hauptsystem erhitzen und anfangen zu kochen. Außerdem würde der Druck steigen, der Reaktorkern würde sich erhitzen und freigelegt werden. An diesem Punkt kommt es zu einem schweren Unfall. Der Reaktorkern würde schmelzen. Seit dem Krieg waren die Reaktoren zehnmal ohne externe Stromversorgung. In diesen Fällen sind sie auf Dieselgeneratoren angewiesen, die jedoch nie für einen längeren Betrieb ausgelegt wurden."
Potenzielles Risiko: Freisetzung von Radioaktivität
Es gibt viele Szenarien für zukünftige radioaktive Notfälle in Saporischschja. Sie reichen von der Beschädigung der Hülle über das Lahmlegen relevanter Sicherheitsvorkehrungen bis hin zur Sabotage von Strom oder Kühlsystemen. Eine Beschädigung des AKW birgt das potenzielle Risiko, Radioaktivität freizusetzen. Jedoch muss das nicht zwangsläufig eintreten. Falls eine Freisetzung auftritt, erfolgt sie höchstwahrscheinlich erst nach einigen Tagen. Die Kontamination breitet sich dann unvorhersehbar aus und hängt von den vorherrschenden Wetterbedingungen und der Topographie der Umgebung ab.
Eine solche Freisetzung kann entweder lokal begrenzt oder großflächig über die Ukraine hinaus erfolgen. Die erste Sorge von Greenpeace gilt den Menschen in der Ukraine, die am meisten gefährdet sind. Das Risiko einer starken Kontamination besteht hauptsächlich innerhalb eines Umkreises von einigen hundert Kilometern um das AKW Saporischschja. Allerdings besteht bei außergewöhnlichen Wetterbedingungen die Möglichkeit einer weiteren Ausbreitung der Kontamination. Auch weite Teile Europas können von einer mittleren Kontamination betroffen sein, was entsprechende Maßnahmen wie Einschränkungen in der Landwirtschaft erfordern würde. Die vorrangig freigesetzten radioaktiven Stoffe wären hauptsächlich Cäsium (Cs-137 und Cs-134).
Bei einem nuklearen Notfall am AKW Saporischschja sind bestimmte Maßnahmen zur Minimierung der Auswirkungen und zur Sicherheit der Bevölkerung in der Ukraine erforderlich. Die örtlichen Notfallbehörden müssen Informationen bereitstellen und Anweisungen über verschiedene Medienkanäle kommunizieren. Wenn radioaktive Materialien freigesetzt werden, sollen die Menschen in geschlossenen Räumen bleiben und auf Anweisungen der Behörden warten. Ihren Anweisungen ist Folge zu leisten. Auch Greenpeace wird die Situation weiter beobachten und relevante Informationen bereitstellen.
Forderung: Sicherheit muss gewährleistet sein
Um für möglichst viel Sicherheit zu sorgen, fordert Greenpeace: Russland muss all seine Truppen, militärische Ausrüstung und Sprengstoffe aus dem AKW Saporischschja entfernen. Außerdem muss das Kernkraftwerk wieder unter die Kontrolle des ukrainischen Betreibers und der ukrainischen Behörden gebracht werden. Die Ukraine braucht uneingeschränkten Zugang zum Bereich, um das AKW Saporischschja zu stabilisieren. Alle Reaktoren müssen unbedingt gemäß der Anordnung der ukrainischen nationalen Regulierungsbehörde SRNIU im Kaltabschaltzustand belassen werden.
Um weiteren Druck auf Russland auszuüben, muss die EU umfassende nukleare Sanktionen gegen Rosatom verhängen, da das Unternehmen mitverantwortlich für die Besetzung des AKW Saporischschja ist. Es liegt in der Verantwortung Russlands, den Krieg zu beenden, die territoriale Integrität der Ukraine anzuerkennen und alle Feindseligkeiten einzustellen.
Nur durch die Umsetzung dieser Maßnahmen kann das potenzielle Risiko einer Freisetzung von Radioaktivität und die damit verbundene Kontamination effektiv reduziert werden. Die internationale Gemeinschaft muss alles in ihrer Macht stehende tun, um eine sichere Zukunft für die Region zu gewährleisten.