Historische IGH-Stellungnahme: Alle sind zum Klimaschutz verpflichtet
- Ein Artikel von Ortrun Sadik
- mitwirkende Expert:innen Sarah Zitterbarth
- Im Gespräch
Es ist eine Richtungsentscheidung, ein juristischer Paukenschlag, es ist historisch: Am 23. Juli 2025 stellte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag fest, dass alle Staaten dieser Erde verpflichtet sind, das 1,5 Grad Klimaziel einzuhalten.
Den Haag sieht Staaten völkerrechtlich verpflichtet, alles ihnen mögliche zu tun, um ihren CO2-Ausstoß zu senken und die Klimakrise zu stoppen. Das weltweit höchste Gericht unterstreicht damit die völkerrechtliche Verantwortung der Staaten zum Klimaschutz entsprechend der Ziele des Pariser Klimaabkommens. Regierungen und Konzerne müssen Verantwortung übernehmen für die Klimakrise, die sie verursacht haben. Sie müssen die Klimakrise mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln abwenden. Damit hat das welthöchste Gericht heute eine neue Zeitrechnung im Klimaschutz ausgerufen.
Das 2023 in der UN-Hauptversammlung beauftragte und jetzt vorgestellte Gutachten macht damit in einer Deutlichkeit klar, dass Nationale Klimaziele einzuhalten sind, Staaten eine Sorgfaltspflicht haben, das Klima angemessen zu schützen und dass diese Sorgfaltspflicht einklagbar ist, von der kaum einer vor heute zu träumen wagte.
Doch was heißt diese IGH-Stellungnahme jetzt für uns? Kann damit ein Trump zum Klimaschutz gezwungen werden? Und was bedeutet das für neue Gasbohrungen vor Borkum oder das Verbrenner-Verbot? Ein Interview mit Sarah Zitterbarth, Expertin für Internationale Klimapolitik bei Greenpeace.
Studierende mit Vision
Wie kam es zur Stellungnahme des IGH?
Das Gerichtsverfahren geht auf die Initiative von Studierenden aus Vanuatu zurück. Der Inselstaat im Südpazifik ist vom Untergang bedroht, weil der Meeresspiegel infolge der Erderhitzung steigt.
Treibende Kraft über all die Jahre blieben die Pacific Island Students Fighting Climate Change (PISFCC). Sie konnten die Regierung von Vanuatu überzeugen, die wiederum andere Nationen überzeugte, die das Anliegen dann zur UN-Generalversammlung brachten. Am 1. Oktober 2025 wurde dieses Engagement für mehr Klimaschutz gewürdigt: Die PISFCC erhielt den alternativen Nobelpreis.
Andere kleine Inselstaaten und später immer mehr Länder, darunter auch Deutschland, hatten sich dem Vorhaben angeschlossen und bei der Hauptversammlung der Vereinten Nationen im März 2023 zusammen das höchste Gericht aufgefordert, Klimaschutz als völkerrechtliche Pflicht festzuschreiben. Denn für viele Staaten, die kaum etwas zur Erdüberhitzung beigetragen haben, geht es ums Überleben ihrer Länder in der Klimakrise.
Seit 2021 hat Greenpeace die Studierenden mit Knowhow, Technik und unseren Netzwerken bei ihrem Vorhaben unterstützt. Wir sind froh und stolz, so einen kleinen Beitrag zu diesem bahnbrechenden Gutachten beigetragen zu haben.
Greenpeace: Die Schlagzeilen sind euphorisch: Die Stellungnahme des IGH sei bahnbrechend, historisch, richtungsweisend. Ist das richtig und warum?
Sarah Zitterbarth: Die Stellungnahme ist wirklich von großer Bedeutung und stellt einen Wendepunkt für den internationalen Klimaschutz dar. Nicht nur, dass sich das höchste Gericht der Welt zum ersten Mal mit der Klimakrise befasst. Mehr noch: Es stellt fest, dass Klimaschutz für die Wahrung der Menschenrechte unabdingbar ist und dass das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt eine Grundvoraussetzung für alle anderen Menschenrechte ist. Es bekräftigt außerdem, dass alle Staaten der Welt dem 1,5 Grad-Limit verpflichtet sind und alles in ihrer Macht stehende tun müssen, um dieses Limit in Reichweite zu halten. Das ist wirklich bahnbrechend, historisch und richtungsweisend. So läutet das Gericht eine neue Ära der Verantwortung und Rechenschaftspflicht für Regierungen und Unternehmen ein, alle in ihrer Macht stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um die Klimakrise aufzuhalten.
Damit schafft die Stellungnahme nun endlich rechtliche Klarheit über die Klimaschutz-Verpflichtungen der Staaten nach internationalem Recht. Angesichts der sich verschärfenden Auswirkungen der Klimakrise und mit Blick auf die bevorstehende Klimakonferenz (COP30) in Brasilien kommt die Entscheidung des IGH zu einem wichtigen Zeitpunkt.
Es ist übrigens das bisher größte Verfahren vor diesem Gericht; über 100 Organisationen und Staaten haben daran teilgenommen. Das besondere ist, dass die am meisten von der Klimakrise betroffenen Gemeinschaften und Länder, und vor allem viele junge Menschen, sich vor dem obersten Gericht Gehör verschafft haben und die Welt dazu gebracht haben, ihnen zuzuhören.
Was hat das IGH im Einzelnen gesagt? Was bedeutet das zum Beispiel für die internationalen Klimaziele?
Der IGH ist eindeutig: Die Regierungen müssen sich an die 2015 in Paris gemachten Versprechen halten. Vor zehn Jahren haben sich die Regierungen verpflichtet, eine sichere und gerechte Zukunft für alle zu schaffen. Es ist ihre rechtliche Pflicht, nationale Klimaschutzpläne mit möglichst hohen Ambitionen vorzulegen, um den globalen Temperaturanstieg unter 1,5 Grad zu halten und die Menschen und den Planeten zu schützen. Die Stellungnahme unterstreicht dabei, dass der nationale Ermessensspielraum für die Klimapläne begrenzt ist, da alle Länder dem 1,5 Gradlimit verpflichtet sind und alle Klimapläne zusammengenommen das Temperaturlimit in Reichweite halten müssen.
Das ist ein wichtiges Signal auf dem Weg zur Klimakonferenz. Denn die Regierungen sind verpflichtet, dieses Jahr bis zur COP30 neue Klimaziele für das Jahr 2035 zu beschließen. Dabei müssen sie auch den Übergang weg von fossilen Brennstoffen vorantreiben, wie auf der COP28 beschlossen. Bisher haben jedoch nur wenige Länder ihre Ziele präsentiert. Die bisherigen Verhandlungen der EU für ein 2040 und 2035 Klimaziel bleiben hinter den wissenschaftlichen Empfehlungen und rechtlichen Verpflichtungen zurück - auch das kann aus der IGH-Stellungnahme deutlich abgelesen werden.
Ist ja aber nur ein Stück Papier - kann eine IGH-Stellungnahme nun einen US-Präsidenten Trump wirklich zu mehr Klimaschutz verdonnern?
Die Entscheidung des IGH bestätigt, dass kein Staat sich aus den Klimaschutz-Verpflichtungen zurückziehen kann, auch dann nicht, wenn sich das Land aus dem Klimavertrag verabschiedet hat. Denn sie ergeben sich nicht nur aus dem Paris Abkommen, sondern auch aus dem sogenannten Völkergewohnheitsrecht. Der Austritt aus dem Pariser Abkommen nützt den USA also nichts, sie sind rechtlich trotzdem dazu verpflichtet, die Klimakrise mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln abzuwenden.
Die Entscheidung der IGH ist aufgrund ihres Charakters einer Stellungnahme nicht rechtlich bindend. Aber sie zeigt auf, wie das Gericht entscheiden würde, wenn entsprechende Verfahren bei ihm landen. Sie stellt also klar, wie geltendes Recht ausgelegt werden soll. Doch die Wirkkraft und Konsequenzen dieser Stellungnahme sind nicht zu unterschätzen, denn das Gericht schafft damit einen neuen Standard, auf dem internationales Recht weiter aufgebaut werden kann. Außerdem ziehen nationale Gerichte solche Stellungnahmen bei Verhandlungen von Klimafällen heran. Der US-Präsident Donald Trump kann also nicht direkt vom IGH zu mehr Klimaschutz verdonnert werden, aber die IGH-Stellungnahme kann Klimaklagen weltweit, auch in den USA, einen enormen Schub verleihen und als neue Grundlage für Hunderte von laufenden und künftigen Klimaklagen weltweit dienen.
Was bedeutet diese IGH-Stellungnahme für Deutschland? Müssen wir jetzt unsere Klimagesetze überarbeiten? Zumal ja der Klima-Expertenrat gerade verkündet hat, dass Deutschland nach 2030 droht, seine Klimaziele zu verfehlen?
Für ein Industrieland wie Deutschland ist das ein Paukenschlag. Deutschland ist in der Verantwortung, national und international beim Klimaschutz voranzugehen. Alle klimarelevanten Entscheidungen - von den geplanten Gasbohrungen vor Borkum und in Reichling, über das Aus für neue Verbrenner, bis zum kassierten Heizungsgesetz - all das muss nach dem heutigen Tag neu bewertet werden. Den Haag hat das Ende der fossilen Energien eingeläutet und Staaten verpflichtet, Unternehmen mit Blick auf ihre Emissionen und dadurch verursachte Schäden zu regulieren.
Die Bundesregierung muss also dafür sorgen, dass ihre Gesetze und Maßnahmen die Emissionen der deutschen Industrie und Wirtschaft wirksam begrenzen. Dies umfasst Bereiche wie die Produktion und den Verbrauch fossiler Brennstoffe, die Vergabe von Lizenzen für die Förderung fossiler Brennstoffe, fossile Subventionen und große Infrastrukturprojekte, wie der Bau neuer Autobahnen.
Und was heißt das für die Greenpeace-Klimaklagen?
Die Stellungnahme heute bestätigt, dass all unsere bisherigen Klimaklagen rechtmäßig waren und zu recht positiv beschieden wurden. Und für unsere noch laufenden Klagen wie die VW-Klage und die Zukunftsklage ist das natürlich eine Steilvorlage. Ich bin schon gespannt auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts. Unsere Chancen sind mit der Stellungnahme heute jedenfalls deutlich gestiegen.