Jetzt spenden
Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand Greenpeace Deutschland
© Gesche Jäger / Greenpeace

“Klimaschutzgesetz ist entkernt”

Mehrere Tage hat der Koalitionsausschuss der Ampel verhandelt. Am Abend des 28. März traten die Spitzenpolitiker vor die Presse und präsentierten ihre Ergebnisse. Mit verheerenden Beschlüssen zum Klimaschutz: Der Ausbau von Autobahnprojekten soll beschleunigt werden und die bisherige Verpflichtung zur Einhaltung der jährlichen Klimaziele für einzelne Sektoren wird aufgehoben. Dazu ein Interview mit Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand von Greenpeace Deutschland. 

Greenpeace: Böse Zungen meinen, es wäre schon ein Erfolg, dass sich die Ampelkoalition überhaupt auf irgendetwas geeignet hat. Was sagst du zu den Ergebnissen von gestern Abend? 

Martin Kaiser: Ich bin fassungslos. Fassungslos, dass sich angesichts der Dürre, die sich jetzt wieder in Frankreich und Italien abzeichnet, angesichts der Überflutungen in Neuseeland, die Ampelkoalition einen Rückschritt beim Klimaschutz erlaubt. Das Klimagesetz - ein großer Erfolg der SPD der letzten Regierungskoalition, ein Meilenstein des Klimaschutzes -  ist de facto entkernt, das Sorgenkind unter den Sektoren - der Verkehr - quasi aus der Verantwortung entlassen. Es ist unglaublich. 

Was meinst du damit: “Das Klimaschutzgesetz wurde de facto entkernt?”

Wir erinnern uns: Das Klimagesetz war ein Meilenstein des Klimaschutzes. Mit ihm war es bisher Gesetz, dass jedes Jahr jeder Sektor - auch der Verkehrssektor - seine Klimaziele erreichen und nachweisen muss. Und wer seine Klimaziele nicht erreicht, hätte Sofortmaßnahmen ergreifen müssen. Auf die Sofortmaßnahmen von Herrn Wissing, FDP-Verkehrsminister, warten wir bis heute. Er stellt keine Maßnahmen vor, die wirkungsvoll die Emissionen im Verkehrsbereich herunterbringen. Und anstatt, dass der Minister zur Rechenschaft gezogen oder von Olaf Scholz per Richtlinienkompetenz dazu verdonnert wird, wird der Druck von Wissing genommen. Denn die Maßnahmen, die getroffen werden müssen, falls die Gesamtemissionen weiterhin steigen und nicht abnehmen, müssen dann von allen Sektoren getroffen werden und nicht nur vom Verkehrssektor, der im Moment das größte Sorgenkind ist.

Dem Klima ist es ja aber egal, welche Emissionen zuerst sinken, Hauptsache, die Treibhausgase nehmen endlich ab. Ist es nicht einfach pragmatisch, da zu sparen, wo es am einfachsten und schnellsten geht? 

Also ein Ausbaustopp für Autobahnen oder ein Tempolimit gehen auch sehr schnell und einfach. Ich finde, wenn ein Minister Arbeitsverweigerung im Klimaschutz betreibt, dann sollte nicht das Gesetz geändert werden. Damit wird Wissing ja noch für seine klimaschädliche Haltung belohnt. Stattdessen sollte der Bundeskanzler jetzt per Richtlinienkompetenz das Verkehrsministerium zu wirksamen Sofortmaßnahmen verpflichten. Das erwarten die Menschen, gerade auch die jungen, und das muss jetzt auch gemacht werden, soll das Klima nicht vor die Wand fahren. Und zwar komplett ohne Tempolimit.

Aktive in Booten und im Wasser der Spree, große Buchstaben auf Schwimmbojen bilden den Schriftzug „Klimageld jetzt!“

Die Regierung zögert beim versprochenen Klimageld. Dabei würden davon vor allem Menschen mit geringem Einkommen profitieren. Hier lesen Sie, was sonst noch alles für das Klimageld spricht.

mehr erfahren
Drought in Northern Italy

Der neue Klimabericht der UN, der sogenannte IPCC-Bericht, liegt vor. Und wieder warnen die Wissenschaftler deutlicher als je zuvor vor den Folgen der Klimakrise.

mehr erfahren

Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang begründet diese Rückschritte damit, dass in der Politik Kompromisse gemacht werden müssen, und dass nur so ein weiterer Stillstand vermieden werden konnte. Was meinst du dazu?

Das ist unser momentanes Dilemma: Dadurch, dass so viele Jahre beim Klimaschutz vergeudet wurden, brennt bereits der Vorgarten. Die Klimakrise ist längst da, wir haben einfach keine Zeit mehr, auf Kompromisse zu warten. Wir müssen jetzt radikal umsetzen, was uns die Wissenschaft vorgibt. Und das heißt, wir müssen die Emissionen runterbringen. Gerade auch im Verkehrsbereich, der sich ja bereits seit Wochen nicht gerade mit Ruhm bekleckert, wenn ich den Irrsinn in Brüssel zu E-Fuels betrachte. Und das muss jetzt heißen: Kein neuer Straßenbau, Ausstieg aus dem Verbrenner und Tempolimit.  

Manche Punkte in dem neuen Beschluss klingen aber durchaus konkret und sinnvoll. Zum Beispiel, Ausgleichsflächen für Infrastrukturmaßnahmen künftig zu größeren Gebieten zu bündeln, das Umleiten eines zusätzlichen CO2-Beitrags auf die LKW-Maut in Bahn-Investitionen oder die Elektrifizierung öffentlicher Fuhrparks. Was sagst Du denn dazu? 

Ja, das sind tatsächlich ein paar positive Aspekte. Alles in allem hat der Beschluss aber nichts mit dem großen Wurf zu tun, den der Kanzler im Vorfeld zu der Präsentation der Ergebnisse aus den Verhandlungen angekündigt hatte. Es ist sehr gut, dass nun endlich Geld in den Ausbau der Bahn investiert wird -  der positivste Aspekt aus dem Bündel. Und auch der Naturschutz könnte gestärkt werden durch die Bündelung der Ausgleichsflächen in einem Gesetz. Im Vergleich zu dem großen Ganzen der Ergebnisse wirken diese Beschlüsse allerdings wie ein Trostpflaster für die Klimabewegung, während die Klassen-Rowdies Lindner und Wissing weiterhin das Fortkommen der ganzen Klasse gefährden.

Mehr Interviews mit Martin Kaiser

Martin Kaiser 2022

Anlässlich des Petersberger Klimadialogs (der die jährliche Klimaschutzkonferenz vorbereitet), fordert Martin Kaiser, Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, mehr Geld für Klimaschutz.

mehr erfahren
Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand Greenpeace Deutschland

In Dubai startet die nächste Klimakonferenz. Doch was kann sie in der aktuellen Zeit ausrichten? Martin Kaiser, Geschäftsführender Vorstand bei Greenpeace, im Gespräch.

mehr erfahren
Porträt von Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand von Greenpeace Deutschland

Greenpeace-Deutschland-Geschäftsführer Martin Kaiser begleitete mit Vertreter:innen weiterer Nichtregierungsorganisationen Außenministerin Annalena Baerbock nach Asien. Ein Interview und Resümee.

mehr erfahren
Demonstration in Berlin für Frieden in der Ukraine

Hunderttausende Menschen versammelten sich zur gemeinsamen Kundgebung mehrerer Organisationen für Frieden in der Ukraine. Auszüge aus der Rede des Greenpeace-Geschäftsführers Martin Kaiser.

mehr erfahren
Geschäftsführender Vorstand von Greenpeace, Martin Kaiser

US-Präsident Joe Biden ruft zum Klimagipfel, die EU verkündet ihr Klimaziel – es kommt Bewegung in den Klimaschutz. Aber genug? Fragen an Greenpeace-Chef Martin Kaiser.

mehr erfahren
Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand von Greenpeace

Joe Biden ist fast im Amt. Kommt nun die Wende im Klimaschutz? Hält der neue US-Präsident, was er verspricht? Interview mit Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand von Greenpeace.

mehr erfahren

Mehr zum Thema

Make Polluters Pay Waage
  • 25.11.2024

Die Klimakonferenz endet mit Finanzzusagen, die weit zurückbleiben hinter dem Nötigen. Beim Klimaschutz kommt sie gar nicht voran. Hoffnung spendet allein das nächste Gastgeberland Brasilien.

mehr erfahren
COP29  Symbolbild
  • 11.11.2024

Die kletternden Temperaturen machen die Welt unsicherer. Deshalb reden die Staaten bei der diesjährigen Klimakonferenz viel über Geld. Klimaschutz und Anpassungen in den ärmsten Staaten müssen finanziert werden.

mehr erfahren
Fossil Fuel Phase Out Protest at COP 28
  • 07.11.2024

Das Tempo von Klimakrise und Klimadiplomatie klafft schmerzhaft auseinander. Warum die UN-Klimakonferenz dennoch wichtig ist, worum es diesmal geht und weshalb Greenpeace hinfährt.

mehr erfahren
Aktivist:innen von Greenpeace Belgien stellen einen riesigen "Taxonosaurus"-Dinosaurier vor dem Sitz der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates in Brüssel auf, um gegen die mögliche Aufnahme von fossilem Gas und Atomenergie in die "Taxonomie" der EU zu protestieren.
  • 22.10.2024

Die erste Anhörung gegen das "Grüne" Label für Atomkraft und Erdgas in der EU-Taxonomie ist beendet. Greenpeace war vor Ort und zeigt im neuen Report: Das würde den Klimazielen der EU widersprechen.

mehr erfahren
Arctic Ice Melting into the Cold Waters of Svalbard
  • 19.09.2024

Die Arktis, eine der entlegensten und faszinierendsten Regionen der Erde, ist ein Ort von unbeschreiblicher Schönheit und ein entscheidender Teil des globalen Klimasystems.

mehr erfahren
Vor dem Bundesverfassungsgericht präsentieren mehrere Kläger:innen Klimaschutz-Banner und die Zahl der Zukunftskläger:innen: 54.000
  • 16.09.2024

Über 54.000 Menschen haben sich der Verfassungsbeschwerde von Greenpeace und Germanwatch für mehr Klimaschutz angeschlossen. So geht's weiter.

mehr erfahren