
Die Mär von der Renaissance der Atomkraft
- Hintergrund
Auch wenn vielerorts eine “Renaissance der Atomkraft” herbeigeredet wird, die Fakten sprechen dagegen: Atomenergie ist in Deutschland, im Rest Europas und weltweit auf dem absteigenden Ast. Nach den Daten der Internationalen Atomenergie-Organisation waren 2005 weltweit 440 Reaktoren im Betrieb, das historische Maximum: 2022 liefen davon nur noch 422. Auch der weltweite Anteil der Atomenergie am Strommix ist 2022 unter zehn Prozent gesunken, das ist so wenig wie zuletzt vor Jahrzehnten.
Dieser faktische Niedergang der Atomenergie wird auch durch verschiedene aktuelle Studien belegt: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) kommt nach einer Analyse vom März 2023 zu dem Schluss: “Alle derzeit diskutierten neuen Kernkraftwerksprojekte sind (...) ökonomisch und technisch weder zukunftsfähig noch sinnvoll.” Auch das ifo-Institut München resümiert in einer komplexen und umfassenden Modellierung: “Modellendogen rechnet sich der Bau von Atomkraftwerken nicht mehr.”
Bedeutungsverlust der Atomkraft
Der Anteil der Atomenergie am Strom liegt in der EU derzeit bei rund 25 Prozent. Nach Modellrechnungen der Strommärkte nimmt dieser Anteil fortlaufend ab: 2030 rechnen Expert:innen noch mit etwa 20 Prozent, 2040 noch 13 Prozent. 2050 wird er demnach bei verschwindend geringen 4 Prozent liegen. Wie kommt diese rapide Abnahme zustande? Die Antwort ist simpel: Alte Atomkraftwerke werden außer Betrieb genommen und keine neuen mehr gebaut. Die 2050 verbliebenen Kraftwerke sind solche, die aktuell bereits im Bau beziehungsweise genehmigt sind und so in den Kraftwerkspark gezwungen werden.
Der Ruf nach mehr Atomkraft ist auch deswegen müßig, da der Weiterbetrieb der AKW für die Strompreisentwicklung nahezu irrelevant ist. Für den ausgeschlossenen Fall, dass die deutschen Atomkraftwerke tatsächlich längerfristig weiterliefen, errechnet die ifo-Studie einen preisdämpfenden Effekt von gerade einmal vier Prozent im Jahr 2023 und nur noch 1,4 Prozent im darauffolgenden Jahr. Die tatsächlichen Preiseffekte sind allerdings viel geringer, weil der volle Betrieb der drei letzten Atomkraftwerke durch die abgebrannten Brennelemente gar nicht mehr realisiert werden kann. Die tatsächlich für 2023 erzeugten Strommengen durch die letzten drei am Netz verbliebenen deutschen Atomkraftwerke sind nur rund ein Fünftel der in der Studie unterstellten Menge, dadurch ist auch der Preisdämpfungseffekt in 2023 deutlich geringer. Die Auswirkungen gehen im Rauschen der Preisschwankungen unter.
Es gibt keine Zukunft für Atomkraft in Belgien
Mit Beispielen aus den europäischen Nachbarländern wollen Atomkraftbefürworter:innen belegen, dass Atomenergie dort eine Zukunft hat. Ein genauerer Blick zeigt, dass das nicht stimmt. So ist etwa entgegen anderslautender Behauptungen der belgische Atomausstieg sogar steiler als der in Deutschland:
- In Belgien wurde am Abschalten des Reaktors Doel 3 am 23.9.2022 und des Reaktors Tihange 2 im Januar 2023 planmäßig festgehalten.
- Auch die Abschaltung dreier weiterer Reaktoren (Doel 1 und 2 sowie Tihange 1) in 2025 wird nicht verschoben.
- 2021 betrug der Atomstromanteil im Strommix in Belgien zwar noch über 50%, doch bis 2035 will das Land ebenfalls vollständig aus der Atomkraft aussteigen.
Es stimmt zwar, dass Belgien die Laufzeit von zwei Reaktoren (Tihange 3 und Doel 4) um zehn Jahre bis 2035 verlängert hat. Die Tatsache ändert aber nichts daran, dass der Ausstieg nach wie vor stattfindet und die Kapazitäten konsequent heruntergefahren werden.
Frankreichs Atomsparte ist in der Krise
Die Stromversorgung in Frankreich ist in der Krise, weil sie so massiv auf Atomenergie setzt. Einem überalterten, unzuverlässigen Kraftwerkspark steht ein einziger Neubau eines EPR-Reaktors in Flamanville gegenüber. Die ursprünglich geplanten Kosten von 3,4 Milliarden Euro haben sich nahezu versechsfacht, auf mittlerweile 19,1 Milliarden Euro. Die Überschuldung des Betreibers ist wegen dieses Fiaskos so groß, dass der Stromerzeuger EDF verstaatlicht werden muss. Atomkraftwerke sind im Bau so teuer, dass sie ohnehin ohne Eingreifen des Staates nicht zu finanzieren wären.
Angesichts zahlreicher ungeplanter Ausfälle zieht das Argument der Versorgungssicherheit durch Atomkraft nicht. Deutschland war nicht nur nach den Kraftwerksausfällen im vergangenen Sommer Nettostromexporteur nach Frankreich, sondern auch die Jahre davor. Einfach weil die durchschnittlichen Börsenstrompreise in Deutschland günstiger waren als im Nachbarland.
Dass sich die Problemfelder bei den französischen Atomkraftwerken bald auflösen, ist nicht abzusehen. Die Gründe liegen in der Überalterung der Reaktoren, Korrosionen, einem Instandhaltungs-Rückstau, und der klimabedingten Trockenheit, die im vergangenen Sommer zusammen mit der hohen Wassertemperatur der französischen Flüsse zu Problemen bei der Kühlung der Anlagen geführt hat. Eine Rekord-Winterdürre kündigt bereits jetzt eine dramatische Situation für den Sommer 2023 an. Atomkraftwerke sind nicht bloß ungeeignet zum Kampf gegen die Klimakrise; sie sind auch nicht vor ihren Auswirkungen gewappnet: Weil Atomkraftwerke einen besonders hohen Wasserbedarf haben, sind sie für zukünftige Klimaveränderungen schlechter gerüstet als Wind- oder Solaranlagen.
Deutscher Ausstieg am 15.4.
Immer wieder rufen Reaktorhersteller und Atomlobbyist:innen eine Renaissance der Atomkraft aus und behaupten, dem Energieträger stünde eine glänzende Zukunft mit hohen Wachstumsraten bevor. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Atomkraft ist unsicher, riskant und schafft Abhängigkeiten. Am 15. April 2023 hat Deutschland deshalb endgültig Schluss mit der Risikotechnologie gemacht.