Wenn das Lügengebäude einstürzt - Fakten-Check zum EU-Mercosur-Abkommen
- Ein Artikel von Miryam Nadkarni
- Überblick
Der EU-Lateinamerika-Gipfel hat diese Woche in Brüssel getagt. Auf der Agenda: Das von der Politik als Mittel für Regenwaldschutz gefeierte EU-Mercosur-Abkommen. Fakten oder Fake-News?
Es schützt den Regenwald, es bekämpft den Hunger, es fördert den Wohlstand der Menschen, es schützt uns sogar vor China und Russland! Seit Lula im letzten Jahr zum neuen Präsidenten Brasiliens gewählt wurde, rückt die Ampelkoalition das stark umstrittene Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay in ein schmeichelhaftes grünes Licht. Beim EU-Lateinamerika-Gipfel (EU-CELAC), der am 17./18. Juli in Brüssel stattfindet, soll über einen möglichen Abschluss des Abkommens diskutiert werden.
Während sich die Regierungsvertreter:innen drinnen besprechen, versammelt sich vor den Türen des EU-Parlaments eine andere Gruppe: Greenpeace und über 50 andere Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen demonstrieren zusammen gegen den Abschluss des Vertrags. Dafür bringen sie einen 3-Meter hohen Jenga-Turm zum Einsturz, der die verheerenden Auswirkungen des EU-Mercosur-Abkommens auf die Umwelt, die Menschenrechte, die Arbeitnehmer:innen und die kleinbäuerliche Landwirtschaft symbolisiert (siehe Fotogalerie unten).
Aber was stimmt denn nun? Ist das Abkommen die von der Politik porträtierte eierlegende Wollmilchsau oder doch die von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen angeprangerte Klima-Dreckschleuder?
EU-Mercosur-Handelsabkommen: Was stimmt?
1. Argument der Politik: Das Handelsabkommen bietet die Chance, den Regenwald zu schützen.
Im Gegenteil! Das Abkommen bedeutet, dass unter anderem Rindfleisch, Zuckerrohr, Futtersoja und Biosprit aus dem Mercosur noch billiger und in noch größeren Mengen in die EU importiert werden können. Bereits jetzt werden große Teile des Regenwalds gerodet und andere Ökosysteme zerstört, um Platz für Rinderweiden und Anbauflächen zu schaffen. Mit dem Abkommen will die EU den Export dieser Produkte noch attraktiver machen, indem sie ein Kontingent (sogenannte Quoten) anbietet, das zollfrei oder zollbegünstigt importiert werden darf – z.B. 99.000 Tonnen Rindfleisch oder 650.000 Tonnen Bioethanol (aus Zuckerrohr). Laut Expert:innen bedeuten allein die 99.000 Tonnen zollbegünstigtes Rindfleisch mindestens 5% jährliche zusätzliche Waldzerstörung im Mercosur-Raum.
Zudem ist ein Freihandelsabkommen nicht das richtige Instrument, um den Regenwald zu schützen, weil es sich auf den Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen fokussiert. Naturschutz ist Nebensache. Um den Schutz der Wälder durchzusetzen, gibt es bessere Instrumente, wie die EU Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten.
2. Argument der Politik: Der Handel mit Russland ist weggebrochen, China dominiert den Weltmarkt. In der aktuellen geopolitischen Lage müssen wir das Handelsabkommen abschließen, um nicht auf der Strecke zu bleiben.
Wir brauchen keine Freihandelsabkommen, um Handel zu treiben – die EU handelt bereits jetzt viel mit den Mercosur-Staaten, ebenso wie China. Für Agrarimporte ist Brasilien schon heute der zweitwichtigste Handelspartner der EU. Und die EU ist wiederum Brasiliens zweitwichtigster Handelspartner insgesamt. Für die anderen Mercosur-Länder ist die Lage ähnlich. Das heißt: Die EU ist auch ohne dieses Abkommen ein strategischer und unersetzlicher Handelspartner. Wenn wir mehr Rindfleisch oder andere Agrarprodukte aus Südamerika kaufen, bedeutet dies noch lange nicht, dass China im Gegenzug weniger kaufen wird.
3. Argument der Politik: Das Freihandelsabkommen fördert den Wohlstand der Menschen in Europa und den Mercosur-Staaten.
Chemie- und Autokonzerne sowie die Agrarindustrie profitieren von dem Abkommen, das die Zölle auf ihre Produkte senken oder ganz abschaffen wird. Damit können die Unternehmen ihre Waren günstiger anbieten und der Verkauf steigt in der Regel an.
Die meisten Menschen profitieren hingegen nicht, sondern verlieren sogar. Denn Zölle sind im Grund nichts anderes als Steuern. Sie werden auf Produkte erhoben, die ausländische Unternehmen in einem Staat verkaufen. Der Staat kann mit diesem Geld beispielsweise Straßen, Schulen und Sozialleistungen finanzieren. Entfallen die Zölle aufgrund eines Freihandelsabkommens, verliert der Staat dieses Einkommen.
4. Argument der Politik: Wir brauchen das Handelsabkommen für die Energiewende und für die grünen Wertschöpfungsketten der Zukunft.
Die durch das Abkommen geförderten Produkte (Rindfleisch, Agrarprodukte wie Soja, Pestizide und Verbrennerautos) sind mit hohen CO2-Emissionen oder Umweltzerstörung verbunden. Daher ist dieser Deal für die Energiewende nicht förderlich. Hinzu kommt mehr CO2-Ausstoß durch den langen Transportweg. Für eine gute Zusammenarbeit zum Aufbau grüner Wertschöpfungsketten braucht es dieses Abkommen nicht. Ein Beispiel hierfür ist die Deutsch-Namibische Partnerschaft für grünen Wasserstoff. Denn: Was es für die Energiewende weltweit letztendlich wirklich braucht, ist technologischer Transfer sowie eine grundsätzliche Reduktion des Ressourcenverbrauchs.
5. Argument der Politik: Ein Zusatzinstrument, das Auflagen zum Umweltschutz beinhaltet, kann das Abkommen verbessern.
Die EU-Kommission will das Abkommen durch ein Zusatzinstrument in Form einer sogenannten Interpretationserklärung ergänzen, um es angeblich umweltfreundlicher zu gestalten. Klingt auf den ersten Blick gut, aber Rechtsexpert:innen sind sich einig: die natur- und klimafeindlichen Inhalten des Abkommens verbessert das nicht, denn eine solche Erklärung ändert weder inhaltliche Standards noch schafft sie verbindliche Durchsetzungsmechanismen für Sanktionen. Dieses Zusatzinstrument wäre also ein zahnloser Tiger, der die Waldzerstörung nicht aufhalten wird. Laut Expert:innen wäre eine vollständige Neuverhandlung daher die einzige glaubwürdige Option für ein nachhaltiges Handelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur.
6. Argument der Politik: Beide Seiten des Atlantik profitieren gleichermaßen vom EU-Mercosur-Freihandelsabkommen.
Im Gegenteil. Das Abkommen hat einen neokolonialen Charakter, denn die EU verkauft den Mercosur-Staaten fertige Produkte, während diese im Gegenzug Rohstoffe wie Agrargüter exportieren. Dies bedeutet zum einen, dass die Natur und damit die Menschen in Südamerika ausgebeutet und geschädigt werden, um Lebensmittel für Europäer:innen herzustellen. So verlieren Indigene und Kleinbäuer:innen durch Waldrodungen für Weide- und Anbauflächen ihre Lebensgrundlage. Der starke Pestizideinsatz in den Monokulturen hat zu einer Zunahme von Krebserkrankungen bei den Menschen, die in der Nähe der Felder leben oder auf ihnen arbeiten und zu massivem Bienensterben in Brasilien geführt.
Zum anderen wird befürchtet, dass das Abkommen ernsthafte negative Auswirkungen auf die Mercosur-Industrie und Arbeitsplätze haben wird: Gewerkschaften aus Südamerika kritisieren, dass der Umfang der Zollsenkung für industrielle Importe aus der EU zu groß und das Tempo zu hoch sei, als dass sich die lokale Industrie an den verstärkten Wettbewerb anpassen könnte. Der verschärfte Wettbewerb gefährde Arbeitsplätze und erhöhe die Unsicherheit der Beschäftigungsverhältnisse im Mercosur, weshalb die Unterzeichnung des Abkommens „ein Todesurteil für unsere Industrien“ wäre, so die Gewerkschaftskoordination des Cono Sur. In Argentinien wird zum Beispiel geschätzt, dass fast 200.000 Menschen wegen des Abkommens ihren Job verlieren könnten.
7. Argument der Politik: Das Handelsabkommen hilft, den Hunger und die Armut in Brasilien zu bekämpfen.
Laut der brasilianischen Landlosenbewegung MST wird das Abkommen sogar zu mehr Hunger führen: Es fördert die Produktion und den Export bestimmter Rohstoffe, darunter Soja für Tierfutter oder Zuckerrohr für Biosprit, mit denen Agrarkonzerne viel Geld verdienen. Damit verdrängt das Abkommen die lokale, kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Lebensmittel für die eigene Bevölkerung produziert.
“Die Mercosur-Länder unterstützen wir nur nachhaltig, wenn wir Partnerschaften auf Augenhöhe anbieten, zum Beispiel durch gemeinsame Projekte zu Agrarökologie und Waldschutz oder Technologietransfer für die Energiewende”, sagt Greenpeace-Handelsexpertin Lis Cunha. “Das EU-Mercosur-Abkommen macht all das jedoch nicht. Vielmehr konterkariert es diese Ziele.”