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Sandra Schöttner an der Reling
Uli Kunz / Greenpeace

Interview mit Greenpeace-Expertin Sandra Schöttner zum Amazonas-Riff

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Vor der Küste Brasiliens, wo der Amazonas auf den Atlantik trifft, sind Wissenschaftler auf ein einzigartiges Ökosystem gestoßen. Unter der Wasseroberfläche, teils über 100 Meter tief, liegt ein gigantisches Riffsystem, mehr als 9500 Quadratkilometer groß – fast viermal die Fläche des Saarlands. Dr. Sandra Schöttner, Meeresbiologin und Greenpeace-Expertin für Ozeane, wird das Naturwunder in Kürze selbst vor Ort erforschen. Im Interview erklärt sie, warum die Entdeckung für Wissenschaftler eine Sensation ist – und nicht nur für die.

Greenpeace: Wie konnte so ein gigantisches Riff so lange unentdeckt bleiben?

Sandra Schöttner: Es war einfach undenkbar, dass in diesem Küstenabschnitt überhaupt ein Riff zu finden sein könnte. Laut Lehrbuch galt das als schier unmöglich! Denn tropische Korallenriffe, wie wir sie klassischerweise kennen, brauchen vor allem eines: Sonnenlicht – und klares, sauerstoffreiches, nicht zu saures Meerwasser. Diese Bedingungen sind in Mündungsgebieten von großen Flüssen nicht gegeben, vor allem nicht im Amazonasdelta. Der Amazonas ist einer der schlammigsten Flüsse dieser Erde. Er transportiert unglaublich viele Sedimente und organische Schwebstoffe aus dem Regenwald ins Meer, die einen dichten, trüben Teppich im Wasser bilden – und die Sonnenstrahlen gar nicht bis auf den Meeresgrund durchlassen.

Wie sind die Bedingungen dort unter Wasser?

In der Amazonasmündung herrscht eine heftige Strömung und eine ungewöhnlich starke Schichtung aus Fluss- und Meerwasser: Das trübe Süßwasser fließt oben, das relativ klare Salzwasser unten. Wegen der vielen Sedimente und Schwebstoffe an der Wasseroberfläche, ist es darunter ziemlich dunkel, auch schon in geringen Tiefen. Auffällig ist auch, dass der Sauerstoffgehalt im Wasser stellenweise sehr niedrig ist. Das sind alles nicht gerade die besten Voraussetzungen für die Existenz eines lebenden Riffsystems.

Heißt das, dieses Riff ist einzigartig? Oder haben wir andere Riffe dieser Art einfach noch nicht gefunden?

Beides. Nach jetzigem Kenntnisstand ist dieses Riffsystem tatsächlich weltweit einzigartig – aufgrund seiner besonderen Umweltbedingungen und Eigenschaften, aber auch weil man so etwas bisher nirgendwo anders entdeckt hat. Es wird als neuartiges marines Ökosystem betrachtet, das über eine charakteristische Biodiversität, ein eigenes Mikroklima und eine besondere Geografie verfügt. Hier hat uns die Natur klar eines Besseren belehrt und gezeigt, dass wir längst nicht alles kennen und wissen.

Was bedeutet der Fund wissenschaftlich?

Die Entdeckung des Amazonas-Riffs wird in der Wissenschaft als einer der wichtigsten meeresbiologischen Funde seit Jahrzehnten gefeiert. Dabei spielt aber nicht nur die Neuartigkeit dieses Ökosystems eine Rolle – sondern auch seine mögliche Bedeutung als „Zukunftsorakel“:  Man vermutet, dass es uns einen Einblick liefert, wie Riffe in der Zukunft aussehen könnten, die durch Klimawandel und Erosion unter erschwerten Umweltbedingungen überleben müssen.

Welche Lebewesen findet man an dem Riff vor?

Das Riff besteht hauptsächlich aus Schwämmen, Hart- und Weichkorallen, sowie aus korallinen Rotalgen. Diese Kalkalgen bilden – ähnlich wie Hartkorallen – ein Skelett, beziehungsweise eine Kruste aus Kalk, und sind so maßgeblich am Aufbau der Riffstruktur beteiligt. Außerdem leben dort verschiedene Fische, Weichtiere sowie Hummer und spezielle Bakteriengemeinschaften. Viele der bisher entdeckten Arten kennt man aus anderen Meeresregionen und Riffsystemen. Es wurden aber auch einige neue Arten entdeckt, die vermutlich nur dort vorkommen.

Welchen Bedrohungen ist das Riff ausgesetzt?

Das Sedimentbecken der Amazonasmündung enthält fossile Rohstoffe, also Erdöl. Die brasilianische Regierung hat deshalb verschiedene Sektoren vor der Küste an nationale und internationale Erdölkonzerne verkauft – darunter Total und BP. Deren Sektoren liegen direkt am Riff, einer reicht sogar bis auf acht Kilometer heran. Bislang hat dort zwar noch keine Erdölförderung stattgefunden, die Probebohrungen sollen aber schon in diesem Jahr starten – die Firmen warten nur noch auf die endgültige Genehmigung durch die brasilianische Regierung. Sollte es zu Ölbohrungen oder gar Ölunfällen kommen, ist das einzigartige Leben im Amazonas-Riff in unmittelbarer Gefahr – eine der geplanten Bohrstellen von Total liegt nur acht Kilometer vom Riff entfernt.

Was genau tut Greenpeace vor Ort?

Die Esperanza ist bereits seit einigen Tagen im Riffgebiet in der Amazonasmündung unterwegs, in den nächsten Tagen schließe ich mich der Expedition an. Mit an Bord sind genau jene Wissenschaftler, die dieses einzigartige Ökosystem entdeckt und bekannt gemacht haben. Gemeinsam mit ihnen besuchen wir nun dieses Naturwunder – und zwar direkt unter Wasser, mit einem Tauchboot. Das hat bisher noch niemand gemacht! Wir werden die ersten sein, die das verborgene Leben dort unten in der Tiefe mit eigenen Augen zu sehen bekommen – und für jeden mit Foto- und Videoaufnahmen sichtbar machen. Nur was der Mensch kennt, das schützt er auch.

Die Tauchfahrt zum Riff wird also ein aufregendes Erlebnis.

Ja – ich bin sehr gespannt! Denn die starke Strömung und schlechte Sicht dort unten, vor allem im nördlichen Riffgebiet, machen solche Tauchfahrten zu einer echten Herausforderung. Das Tauchboot war allerdings schon mehrfach erfolgreich im Einsatz, und wir haben erfahrene Piloten. Diese einmalige Chance, eine völlig unbekannte Welt zu entdecken, stimmt mich aber auch nostalgisch: Vor fast genau 10 Jahren durfte ich schon einmal in einem Tauchboot ein verborgenes Korallenriff erkunden – in den dunklen, kalten Gewässern am norwegischen Kontinentalrand, in einer Tiefe von 400 Metern. Das wunderschöne, pralle Leben dort unten werde ich nie vergessen, es fasziniert mich bis heute. Im Amazonas-Riff wird es mir bestimmt nicht anders ergehen! 

  • Unterwasserbild Amazonas-Riff

    Verborgenes Leben

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  • Unterwasserbild Amazonas-Riff

    Schön und bedroht

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  • An einem Kran wird das Unterseeboot ins Wasser gelassen

    Herausgefischt

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  • Zwei Forscher im U-Boot an Deck der Esperanza

    Schicker Zweisitzer

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