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Züge und Menschen am Hauptbahnhof in Hamburg
© Gesche Jäger / Greenpeace

9-Euro-Ticket: So kann es weitergehen

52 Millionen verkaufte 9-Euro-Tickets in drei Monaten – ein Riesenerfolg. Trotz des breiten Wunsches nach einer Anschlusslösung ist das Ticket zum ersten September ausgelaufen. Auch das dritte Entlastungspaket der Bundesregierung liefert keine schnelle und bezahlbare Nachfolge. Die diskutierte Preisspanne von 49 bis 69 Euro für eine Monatskarte hält Marissa Reiserer, Expertin für Mobilität bei Greenpeace, für viel zu hoch, um Menschen finanziell zu entlasten oder zum Umsteigen zu bewegen. Sie schlägt vor, das 9-Euro-Ticket bis Ende des Jahres fortzuführen und ab 2023 ein sogenanntes Klimaticket für einen Euro pro Tag anzubieten. Im Interview erzählt sie, wie sich dieses finanzieren ließe, welchen Nutzen es hätte und wie die Bevölkerung dazu steht. Und sie bewertet den von der Bundesregierung verkündeten Vorschlag.

Portraits of Marissa Reiserer

Marissa Reiserer

Greenpeace: Wie sehen Wähler:innen verschiedener Parteien ein staatlich bezuschusstes ÖPNV-Ticket und wie würden sie es finanzieren? Das sind zentrale Fragen einer von Greenpeace veröffentlichten Umfrage. Wie ist das Ergebnis? 

Marissa Reiserer: Zunächst möchte ich eine andere Umfrage erwähnen: Laut einer Focus-Umfrage wünschen sich knapp 80 Prozent der Bevölkerung eine Fortführung des 9-Euro-Ticket - bei den unter 30jährigen sind es fast 90 Prozent. 

In der von uns beauftragten Umfrage wollten wir wissen, wie die Bevölkerung ein günstiges Ticket bis maximal einen Euro pro Tag finanzieren möchte. Dazu hat das Meinungsforschungsinstitut Katar repräsentativ 2005 Menschen befragt. Unabhängig von der Parteipräferenz haben sich die Befragten eindeutig für die Finanzierung eines Anschlusstickets durch die Streichung klimaschädlicher Subventionen ausgesprochen. Bei den Wähler:innen der Grünen, der Linken, der SPD waren es 90 Prozent und selbst beim Schlusslicht FDP waren es immer noch 69 Prozent. Unter den vorgeschlagenen Finanzierungsoptionen hat die überwiegende Mehrheit die Streichung des Dienstwagenprivilegs gewählt. 

Das freut mich, da auch Greenpeace für die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs ist. Denn der Staat belohnt mit dem geringen Steuersatz für privat genutzte Firmenwagen umweltschädlichen Konsum mit jährlich 4,4 Milliarden Euro – das kommt in der Regel Besserverdienenden zugute, die hauptsächlich Dienstwagen gestellt bekommen.

Greenpeace: Die Bundesregierung schlägt nun doch eine Nachfolge für das 9-Euro-Ticket vor: Der Bund würde 1,5 Milliarden Euro dazugeben, die Länder sollen noch mal das Gleiche drauflegen. Ziel sei ein dauerhaftes Tickt, das monatlich zwischen 49 und 69 Euro kostet. Was sagst du dazu?

Marissa Reiserer: Statt den Weg freizumachen für ein bezahlbares Klimaticket, das einkommensschwächere Haushalte entlastet und die Verkehrswende voranbringt, legt FDP-Chef Christian Lindner ein vergiftetes Angebot vor. Die FDP schiebt die finanzielle Verantwortung für ein Klimaticket den Bundesländern zu. Dabei sollten die sich ganz darauf konzentrieren, das ÖPNV-Angebot auszubauen, damit Menschen auf dem Land nicht länger abhängig sind vom Auto. Ein Klimaticket für 49 Euro ist zu teuer, es schließt viele ärmere Menschen aus. Damit der sozial- und klimapolitische Erfolg des 9-Euro-Tickets nicht verpufft, darf die Nachfolge nicht mehr als 29 Euro im Monat kosten. Das Geld dafür schaufelt die Bundesregierung bislang in klimaschädliche Subventionen wie das Dienstwagenprivileg. Das ist absurd.

Greenpeace: Warum schlägt Greenpeace vor, ab dem Jahr 2023 ein Klimaticket für einen Euro pro Tag anzubieten und nicht, das 9-Euro-Ticket dauerhaft fortzuführen?

Marissa Reiserer: Wichtig sind uns zwei Sachen: Zum einen muss der ÖPNV dauerhaft günstiger sein als ein Gebrauchtwagen und zum anderen muss er bezahlbar sein für Menschen mit geringem Einkommen.

Gegen ein 9-Euro-Ticket würden wir uns natürlich nicht stellen. Es geht aber auch um Akzeptanz. Durch die Streichung des Dienstwagenprivilegs würden direkt 4,4 Milliarden Euro frei – so viel würde auch die Subventionierung des Klimatickets kosten. Das schafft in sozialer Hinsicht und für den Klimaschutz eine Win-Win-Situation, die so einfach ist – da kann eigentlich niemand was dagegen haben. Mitte Juli hatten wir kalkuliert, wie sich verschiedene Tickets finanzieren ließen. Beim 9-Euro-Ticket würde sich der Betrag nochmal auf 10 Milliarden Euro erhöhen – das entspräche in etwa der Summe, die beim Streichen des Dienstwagenprivilegs in Kombination mit einer Reform der Pendlerpauschale frei werden würde.

Grafik Dienstwagenprivileg, Steuergeschenk für einen Porsche: 1297 Euro monatlich

Greenpeace: Und bei der Reform der Pendlerpauschale wäre die Akzeptanz nicht gegeben, weil einem sofort die halbtags beschäftigte Krankenschwester oder der Krankenpfleger einfallen würde?

Marissa Reiserer: Das ist immer das Argument: Putzkräfte oder Krankenpflegende, die weit fahren müssen. Wenn wir uns aber anschauen, wer eigentlich wirklich von der Pendlerpauschale profitiert, dann sind es Spitzenverdiener:innen. Das ist durchschnittlich die Personengruppe, die die größten Pendeldistanzen, die höheren Werbungskosten und den höheren Steuersatz hat. Diese eh schon finanziell besser gestellte Gruppe bekommt also viel mehr raus aus der Pendlerpauschale. Bei den unteren Einkommensgruppen sind statistisch weitere Arbeitswege viel seltener; sie haben niedrigere Steuersätze und ganz viele liegen unter dem Steuerfreibetrag. Leute also, die mit wenig Stunden in Teilzeit sind, alle Auszubildenden, Rentner:innen profitieren überhaupt nicht von der Pendlerpauschale. Das ist ungerecht. Wenn man die Pendlerpauschale abschafft, muss man das bei den Wenigen abfedern, die sozial dadurch hart getroffen würden. Beispielsweise durch ein umweltfreundlicheres und gerechteres Mobilitätsgeld.

Public Transport 9 Euro Ticket Starts in Berlin

Anschluss nicht verpassen

Ein Klimaticket kann Haushalte entlasten, das Klima schonen und es lässt sich leichter finanzieren, als viele glauben. Alles spricht für ein dauerhaftes ÖPNV-Ticket für maximal 29 Euro im Monat.

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Greenpeace: 46 Milliarden Euro könnten insgesamt laut Greenpeace durch die Streichung klimaschädlicher Subventionen freigesetzt und in eine klimafreundlichere Zukunft investiert werden. Eine beachtliche, aber dann doch kleine Summe angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen: Der Ausbau von Bus und Bahn ist dringlich – und auch die Landwirtschaft, das Bauwesen, die Energieversorgung müssen angepasst und zukunftsfähig werden. Wäre es daher nicht sinnvoller, das Geld in die Schiene statt in das Klimaticket zu stecken?

Marissa Reiserer: Wir dürfen keine Entweder-Oder-Debatte führen. Für die Verkehrswende und soziale Gerechtigkeit brauchen wir den Ausbau und günstige Ticketpreise im ÖPNV. Seit 1990 sind die Emission im Verkehrssektor nicht gesunken. Es wurde viel versäumt, wir können uns nicht auf eine einzelne Maßnahme beschränken. Natürlich rettet das 9-Euro-Ticket allein nicht das Klima – wir brauchen das gesamte Maßnahmenbündel. Und das kann über den Abbau klimaschädlicher Subventionen finanziert werden. Was wir uns in jedem Fall überhaupt nicht leisten können, ist eine fortschreitende Klimakrise. Und was wir uns auch nicht leisten können, ist eine Gesellschaft, die sozial auseinanderfällt. Das 9-Euro-Ticket ist eine Maßnahme von der Menschen profitieren, die sich Mobilität ganz lange nicht leisten konnten.

Es gibt bewegende Berichte von Menschen, die sagen: Ich habe nach langer Zeit endlich mal wieder meine weiter weg wohnenden Verwandten besucht. Oder: Ich war mit meinen Kindern endlich am See. Dieses Ticket führt Klimaschutz und soziale Belange zusammen. Angesichts des kommenden Herbstes, in dem durch die steigenden Gaspreise soziale Themen groß werden, ist es wichtig, Klimaschutz nicht gegen soziale Themen auszuspielen, sondern Maßnahmen zu finden, die beides kombinieren.

Greenpeace: Was bringt ein steuerfinanziertes Ticket Menschen auf dem Land? Eine in sozialen Netzwerken häufiger gestellte Frage, da die ÖPNV-Infrastruktur im ländlichen Raum deutlich schlechter ist.

Marissa Reiserer: Das 9-Euro-Ticket oder auch ein sogenanntes Klimaticket für 1 Euro pro Tag können ein Türöffner sein für die Verkehrswende. Und davon profitieren auch die Menschen auf dem Land, denn die Klimakrise trifft uns alle: etwa die Hitze, die unter der Dürre leidende Landwirtschaft mit ihren Ernteeinbußen oder gar die Schifffahrt durch niedrige Wasserstände in den Flüssen.

Zudem haben wir externe Kosten des Verkehrs in Deutschland von 149 Milliarden Euro jährlich. Der größte Kostentreiber ist der Straßenverkehr mit 141 Milliarden Euro. Darunter fallen Unfälle, Unfallfolgekosten oder Luftverschmutzung durch den Verkehr - das bezahlen alle Steuerzahlenden, auch diejenigen, die kein Auto haben. Dazu kommen noch Milliarden für den geplanten Bau weiterer Autobahnen.

Statt noch mehr Autobahnen brauchen wir dringend einen Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs - auch auf dem Land. Und nicht die Frage: Dürfen die in der Stadt günstig unterwegs sein?

Greenpeace: Wie groß ist denn der Klimaeffekt des 9-Euro-Tickets?

Marissa Reiserer: Jede fünfte Person, die das 9-Euro-Ticket genutzt hat, war davor nicht im ÖPNV: Eine große Menge an Menschen, die den ÖPNV als Mobilitätsoption getestet hat und nun in weitere Entscheidungen einbeziehen kann. Drei Monate sind sehr kurz, wenn es darum geht, Gewohnheiten zu ändern. Daher ist es wichtig, dass es ein Nachfolgeticket gibt - als Türöffner für eine andere Mobilität weg vom autozentrierten Denken.

Es gab aber bereits jetzt eine sichtbare Verkehrsverlagerung: Im Schienenverkehr haben wir seit Einführung des 9-Euro-Tickets einen Zuwachs von 40 Prozent. Gleichzeitig geht der Autoverkehr zurück – der Rückgang ist allerdings geringer als der Zuwachs des Schienenverkehrs. Im Juni und Juli gab es in der Mehrzahl der untersuchten Städte weniger Staus und insgesamt einen Rückgang des Autoverkehrs um etwa fünf Prozent. In Hamburg ersetzten 12 Prozent der mit dem 9-Euro-Ticket gemachten Fahrten eine Autofahrt. 

Wir haben ausgerechnet, dass der Rückgang der Autofahrten um fünf Prozent eine Ersparnis von zwei bis sechs Millionen Tonnen CO2 bringt. Wenn man ganz genau sein will, müsste der Zuwachs an Bahnkilometern gegengerechnet werden. Denn zusätzlich eingesetzte Züge oder Busse, die nicht mit Ökostrom fahren, verursachen CO2. Ausgehend von den zwei bis sechs Millionen Tonnen CO2 und hochgerechnet bis zum Jahr 2030 bringt alleine diese Verlagerung um fünf Prozent mehr als die von Verkehrsminister Volker Wissing vorgestellten Klimaschutz-Sofortmaßnahmen bis 2030.

Greenpeace: Kann die Bahn eine Fortführung des 9-Euro-Tickets überhaupt stemmen? Wie war die Auslastung der Züge und Belastung des Personals in den vergangenen drei Monaten?

Marissa Reiserer: Mehr Personal und Züge brauchen wir sowieso – das ist keine Frage des 9-Euro-Tickets. Es hat eher gezeigt, dass wir derzeit ein Verkehrssystem haben, das noch nicht in der Lage ist, die Menge an Menschen dauerhaft umweltfreundlich zu bewegen.

Jahrzehntelang stand das Auto im Fokus der Verkehrsplanung, der Bahn- und ÖPNV-Ausbau hingegen wurde liegengelassen, Gleise sogar stillgelegt. Das ist jetzt harte Arbeit, das wieder aufzubauen. Deshalb ist es so wichtig, sofort anzufangen, die Schieneninfrastruktur auszubauen und im Bundesverkehrswegeplan Gelder umzuschichten: weg vom Auto hin zur Schiene.

Deutlich schneller lassen sich Busse einsetzen – auch als Übergangslösung, solange die Schiene noch ausgebaut wird. Auch die vorhandene Schieneninfrastruktur, die in den vergangenen Jahrzehnten stillgelegt wurde, ließe sich schneller aktivieren. 

(Erstveröffentlichung des Interviews am 25. August)

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