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Mutter mit Kinderwagen in unmittelbarer Nähe zum schwimmenden Atomkraftwerk Akademik Lomonosov in St. Petersburg, Russland
Greenpeace

Russland baut schwimmende Atomkraftwerke – ohne Rücksicht auf die Risiken

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2018 soll in Russland der Prototyp eines schwimmenden AKW fertig werden, Gefahr: nicht geprüft. Das erste Risiko, das Anfahren, hat Moskau von St. Petersburg nach Murmansk verlegt.

Aufatmen in St. Petersburg: Bürger verhinderten ein wahnwitziges Experiment mitten in der Fünf-Millionen-Metropole. Dort, im Zentrum von Russlands zweitgrößter Stadt, wird der Atomreaktor Akademik Lomonosov nun doch nicht beladen und im Testlauf hochgefahren. Das hat der staatliche Atomenergiegigant Russlands Rosatom Ende vergangener Woche verkündet.

Der Lastkahn mit insgesamt zwei Reaktorblöcken schaukelt derzeit noch auf der Newa in einem der Hafenbecken von St. Petersburgs, in unmittelbarere Nähe zu Kirchen, Kindergärten und Fußgängern. Das Anfahren eines Reaktors – vor allem eines schwimmenden Prototyps ohne Betonschutzhülle – ist immer eine besonders riskante Phase im Betriebszyklus eines Atomkraftwerks. Sind alle Rohre dicht? Hält jede Manschette, jede Schweißnaht den Belastungen und dem Druck stand? Funktioniert die schnelle Notabschaltung? Bei ähnlichen atomaren Anlagen auf Eisbrechern oder Kriegsschiffen kam es in Russland bereits zu Unfällen – mit insgesamt 29 Toten. Dieses riskante Experiment soll nun in die sibirische Stadt Murmansk verlegt werden, nach der zynischen Logik: Dort träfe es im Falle eines Unfalls „nur“ 300.000 Menschen.

 

Bürgerproteste gegen das schwimmende AKW

Mehr als 11.000  St. Petersburger hatten mit Unterschriften und Petitionen gegen das Beladen des Atomreaktors protestiert. „Für westliche Verhältnisse klingt das nach wenig Widerstand“, erklärt Jan Haverkamp, Greenpeace-Experte für Atomenergie in Mittel- und Ost-Europa. „Doch im Russland Putins braucht es dafür sehr viel Mut und zeigt, wie groß die Angst in der Bevölkerung tatsächlich ist.“

Auch die Ostsee-Anrainerstaaten sind froh über die Entscheidung Moskaus. Denn auch für sie ist es deutlich risikoärmer, wenn nicht ein angefahrener und somit strahlender sondern ein leerer, unverseuchter Atomreaktor ihre Küsten entlang transportiert wird. Greenpeace hatte deshalb alle baltischen Staaten und auch Deutschland ersucht, sich gegen das schwimmende Atomkraftwerk auszusprechen. Die finnische Regierung zum Beispiel war darüber so besorgt, dass sie den Chef ihrer Atomaufsicht kürzlich nach St. Petersburg schickte, um die Lage vor Ort zu begutachten. Und auch die norwegische Regierung hatte Moskau seine Bedenken gegen die Pläne mitgeteilt.

Andere Staaten sollen Umweltprüfung einfordern

„Für die Anlage gibt es bislang keine Umweltverträglichkeitsprüfung“, kritisiert Haverkamp. Der Greenpeace-Experte lotet gerade aus, inwiefern andere Staaten im Baltikum oder auch Deutschland rechtlich Einfluss auf die Entscheidungen Moskaus nehmen können. Möglichkeiten dafür bietet die sogenannte Espoo-Konvention, ein europäisches Umweltabkommen aus dem Jahr 1997, das über 40 Länder ratifiziert haben. Es sichert den betroffenen Staaten eine Teilnahme an Umweltverträglichkeitsprüfungen relevanter Projekte zu. Russland ist dieser Konvention zwar nicht beigetreten, hat sie aber unterzeichnet und verkündet, ihr zu folgen. Und auch der Zusammenschluss von Staaten im Arktischen Rat bietet Ansatzpunkte, international eine Umweltverträglichkeitsprüfung zu fordern.

Derzeit hat selbst die russische Atomenergiebehörde Rostechnadzor, das offiziell unabhängige Kontrollorgan, keinen uneingeschränkten Zugang zu den Reaktoren und nur sehr eingegrenzte Überwachungsbefugnisse. Denn schwimmende Atomreaktoren fallen – obwohl zivil genutzt – analog zu militärischen Einrichtungen nicht unter ihr Mandat.

Eine Flotte schwimmender Atomkraftwerke

Geplant ist, dass die Akademik Lomonosov nächstes Jahr in St. Petersburg fertig gestellt und dann nach Murmansk transportiert wird. Dort sollen die Reaktoren dann beladen und getestet werden, bevor sie 2019 zu ihrem eigentlichen Bestimmungsort gezogen werden. Der heißt Pewek, eine 5000-Seelen-Gemeinde in der nordöstlichsten Ecke Russlands. Die 70-Megawatt-Anlage kann eigentlich 100.000 Einwohner versorgen; das gibt der Region die Möglichkeit eines Wirtschaftsaufschwungs. Denn die russische Regierung plant schon für eine Zeit, in der die Erderwärmung die Häfen Sibiriens vom Eis befreit, und Ölförderung in der Arktis die Region wirtschaftlich beleben soll – auch wenn das für Umwelt und Klima verheerend wäre.

Klappt der Testlauf dieses schwimmenden Atomkraftwerks, soll eine ganze Flotte folgen. „Genaue Zahlen werden nicht genannt“, erklärt Jan Haverkamp. „Aber ich rechne mit 20 bis 30 Reaktoren.“ Auch China hat im vergangenen Jahr mit dem Bau eines Prototyps solch einer Anlage begonnen, die in abgelegenen Inseln im südchinesischen Meer zum Einsatz kommen soll; insgesamt 20 solcher AKW sind geplant.

Exportschlager für entlegene Gebiete?

Russland-Karte mit der Route der Akademik Lomonosov von st. Petersburg nach Pewek

Verglichen mit Atomkraftwerken auf dem Land sind die schwimmenden Modelle relativ klein. Russland und China wollen damit eine Stromversorgung für Menschen in extrem abgelegenen Gebieten wie dem hohen Norden Sibiriens oder auf fernen Inseln schaffen. Die Idee der beiden Großmächte: daraus einen Exportschlager zu machen. Sie haben schon in einigen Inselstaaten wie Indonesien, den Philippinen oder den Kapverdischen Inseln für ihre Idee geworben.

Doch die schwimmenden Kleinreaktoren sind gefährlich und teuer. „Es wäre viel sinnvoller, gerade in abgelegenen Gebieten auf Energieformen zu setzten, die die Natur vor Ort bietet“,  so Haverkamp. Denn selbst in Sibirien, wo keine Erneuerbare Energie alleine genügend Potenzial besitzt und eine Kombination aus Sonnen-, Wind- und Wasserkraft sowie Energiespeicherung benötigt würde, wäre das immer noch billiger, als ein kleines strahlendes Atomproblem durch die Gegend zu schippern. Mit vielen Risiken, die alle absolut vermeidbar und unnötig sind.

Der geplante Weg der Akademik Lomonosov: blau ohne und rot mit radioaktiver Beladung. 

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Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital

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