Die Vereinten Nationen am Scheideweg
- Ein Artikel von Martin Kaiser
- Meinung
Damit die Vereinten Nationen wirksam gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen vorgehen können, brauchen sie eine tiefgreifende Reform. Deutschland trägt dafür eine besondere Verantwortung.
Dieser Tage treffen sich in New York Staats- und Regierungschefs der Vereinten Nationen zur UN-Generalversammlung. Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat leider abgesagt - ein verheerendes Zeichen an die Weltgemeinschaft. Acht Jahrzehnte nach ihrer Gründung steht die UN ohnehin unter Druck. Kriege, Klimakrise und Naturzerstörung sprengen die alten Strukturen. Die Klimakrise ist nicht mehr nur eine ökologische, sondern längst auch eine geo- und sicherheitspolitische Herausforderung.
Trump kündigt das Pariser Klimaabkommen und fordert Staaten auf, das UN-Schifffahrtsabkommen zu verlassen, während Putin seine Expansionen mit Öl- und Gasgeschäften betreibt. Trumps Handelspolitik zeigt: Für ihn zählt nicht die regelbasierte Weltordnung, sondern eine Wild-West-Manier, deren einzige Spielregel darin besteht, dass der Stärkere Recht bekommt.
Gleichzeitig wird die fossile Gasversorgung der EU zum kriegerischen Erpressungsinstrument Putins. Katastrophen wie die sintflutartigen Regenfälle in Valencia und im Ahrtal, die verheerenden Waldbrände in Kalifornien, Griechenland oder Brandenburg und die schleichende Vernichtung des Amazonas-Regenwalds zeigen: Frieden, Wohlstand und Stabilität im 21. Jahrhundert können nicht mehr ohne wirksamen Klima- und Naturschutz gesichert werden.
Ein Gutachten mit Sprengkraft
Das im Frühjahr 2025 veröffentlichte Gutachten des Internationalen Gerichtshofs markiert einen juristischen Wendepunkt. Es stellt erstmals fest, dass Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, ihre Politik am 1,5-Grad-Limit auszurichten. Und sie können zukünftig dafür haftbar gemacht werden, wenn sie das nicht tun.
Zugleich eröffnet das Gutachten die Möglichkeit, die Kategorien der UN neu zu definieren: weg von der traditionellen, veralteten, aus den 50er Jahren stammenden Trennung in „entwickelte“ und „entwickelnde“ Länder, hin zu einer Bewertung nach tatsächlichem Beitrag zur Klimakrise, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und realer Betroffenheit.
Das ist mehr als juristische Detailarbeit. Es könnte den Weg bereiten für eine neue Architektur globaler Verantwortung, ohne die historische Verantwortung von Staaten für die finanzielle Begleichung der Umweltschäden zu verwischen.
Klimakrise und Verlust von Naturräumen zusammendenken
Die Klimakrise treibt Jahr für Jahr das Artensterben weiter. Umgekehrt schwächt die Zerstörung von Wäldern, Mooren und Meeren deren Fähigkeit, den Temperaturanstieg einzudämmen. Waldbrände oder vertrocknende Moore setzen im Gegenteil CO2 frei und heizen ihn damit sogar an.
Dennoch funktionieren die zuständigen UN-Konventionen weitgehend getrennt. Diese Zersplitterung verhindert kohärente Politik. Nötig ist eine integrierte Governance, die Klima- und Naturschutz nicht gegeneinander ausspielt, sondern verbindet. Es braucht Reformen, die zweierlei verhindern: Erstens, dass am Ende einer Verhandlungsrunde nur der kleinste gemeinsame Nenner beschlossen wird. Und zweitens, dass Verhandlungen – wie zuletzt beim Thema Plastik – ganz scheitern, weil die Interessen der Öl- und Gasindustrie aus den USA, Russland und den Golfstaaten die Einigung blockieren.
Überfällige Strukturreformen zum 80. Jubiläum?
In der Wissenschaft gilt seit Jahren der Konsens, dass die Vereinten Nationen reformbedürftig sind. Angesichts der geopolitischen Spannung und der eskalierenden Klimakrise wächst der Druck, vor allem bei den Entscheidungsverfahren. Seit vielen Jahrzehnten lähmt das Konsensprinzip der Vereinten Nationen auch die Klimaverhandlungen, weil einzelne Staaten blockieren können. Mehrheitsentscheidungen könnten diese Blockaden überwinden und den Weg für entschlossenes Handeln freimachen.
Mit dem UN80-Prozess bietet sich nun die Chance, Grundlagen für ein neues Mandat der Vereinten Nationen festzulegen. Der Schutz des Klimas und der Natur sowie die Nachhaltigkeit muss darin zentral verankert werden. Dazu gibt es unter den Staaten vielversprechende Diskussionen: Die Generalversammlung könnte die Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrats künftig verpflichten, nicht nur ihre Vetos, sondern auch ihre nationale Klimapolitik zu erklären und zu rechtfertigen.
Brasilien und führende Klimawissenschaflter:innen schlagen den Aufbau eines neuen Sicherheitsrats für den Zusammenbruch der Erdsysteme vor, eine Art Earth System Security Council, gegebenenfalls unterstützt von „Grünhelmen“ mit Einsatz in besonders gefährdeten Ökosystemen.
Für Menschen, deren Heimat durch Überschwemmung oder Wüstenbildung unbewohnbar wird, gibt es den Vorschlag des Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltfragen eines global gültigen Klimapasses für Menschen, deren Staaten untergehen. Dieser würde Klimageflüchteten staatsbürgerliche Rechte in sicheren Staaten zugestehen.
Ein Fenster der Gelegenheit: Deutschlands Rolle ist entscheidend
Die geopolitische Lage bleibt schwierig, das Vertrauen in multilaterale Institutionen ist fragil. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, dass kein Staat allein die Klimakrise bewältigen kann. Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, die Dynamik im UN-Reformprozess und die Vorbereitungen auf die COP30 in Brasilien eröffnen ein seltenes politisches Gelegenheitsfenster.
Gerade Deutschland hat in diesem Prozess eine Schlüsselrolle. Als eine der größten Volkswirtschaften der Welt, als Mitglied der G7 und als zentrale Stimme in der Europäischen Union trägt die Bundesregierung Verantwortung dafür, dass die UN-Reform nicht im Klein-Klein stecken bleibt. Von Berlin aus muss das Signal ausgehen: Ein solidarischer Multilateralismus gegen die Abrissbirne von Trump und Co. Wird verteidigt. Klimaschutz darf nicht weiter marginalisiert, sondern muss ein Grundpfeiler internationaler Sicherheitspolitik werden.
Darum richtet sich der Blick in den kommenden Wochen auf Bundeskanzler Friedrich Merz. Mit seinem Zeitspiel in Brüssel hat er Zweifel geweckt, ob die EU durch ein ambitioniertes Klimaschutzziel Staaten wie China zum Ausstieg aus der Kohle überhaupt treiben kann. Der Bundeskanzler muss jetzt vielmehr deutlich machen, dass Deutschland bereit ist, Führungsverantwortung zu übernehmen und dass es einen adäquaten Beitrag zur Bewahrung unserer Lebensgrundlagen leistet: für die Stabilisierung des Klimas, für den Schutz des Amazonas-Regenwaldes, der Natur und den Menschen – und für die Glaubwürdigkeit des multilateralen Systems.
Wer Kanzler der Bundesrepublik ist, trägt Verantwortung, die weit über die Landesgrenzen hinausreicht. Umso dramatischer seine Absage für die Generalversammlung der Vereinten Nationen in dieser Woche, auf der Klimaschutz am Mittwoch die zentrale Rolle spielt. Auf dem Klimagipfel im brasilianischen Belém im November hingegen kann und muss Merz sich gemeinsam mit der Mehrheit der Staatengemeinschaft für eine Reform einsetzen, die die Blockade der Krisenbewältigung überwindet. Allem voran sollte er, mit einem starken europäischen Klimaschutzziel in der Tasche, dort vor Ort Klima-Weltpolitik mitgestalten.
Nur so kann Merz seiner Rolle und Verantwortung für Klima und Natur gerecht werden – als deutscher Regierungschef, als europäischer Akteur und als Partner in der Weltgemeinschaft.