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TTIP: Grafik private Streitschlichtung
Greenpeace

Jürgen Knirsch, Greenpeace-Experte für Handel, erklärt die Private Streitschlichtung

Greenpeace: Was ist die Private Streitschlichtung?

Jürgen Knirsch: Private Streitschlichtung ist eine Umschreibung für den sperrigen Begriff  Investor-Staat-Schiedsverfahren, auch unter der Abkürzung ISDS (Investor State Dispute Settlement) bekannt. Darunter versteht man ein außergerichtliches System, das es ausländischen – und nur ausländischen – Investoren ermöglicht, Staaten zu verklagen. Das ist dann möglich, wenn Unternehmen ihre Investitionen durch staatliche Maßnahmen beeinträchtigt sehen.

Ein konkretes Beispiel haben wir in Hamburg: Dort hat der schwedische Energiekonzern Vattenfall ein an der Elbe gelegenes Kohlekraftwerk gebaut und im Februar dieses Jahres in Betrieb genommen. Ende 2007 erhielt Vattenfall die Genehmigung für einen vorläufigen Baubeginn von der damaligen CDU-Landesregierung. Im Frühjahr 2008 bekam Hamburg eine neue schwarz-grüne Regierung. Dadurch kam es zu Verzögerungen bei der Erteilung der notwendigen wasserrechtlichen Genehmigung. Als diese dann im September 2008 vorlag, fand Vattenfall die darin enthaltenen Umweltauflagen zu hoch.

Im März 2009  zog der schwedische Konzern vor ein privates Streitschlichtungsgremium. Mit der Begründung, dass es durch das Genehmigungsverfahren zu Verzögerungen beim Bau gekommen sei und die Umweltauflagen die erwarteten Gewinne schmälern würden, forderte der Konzern 1,4 Milliarden Euro Schadensersatz von der Stadt Hamburg. Vor einer Streitschlichtungsstelle in Washington einigte man sich: Die Stadt hat die Summe nicht zahlen müssen. Dafür hat Vattenfall eine neue wasserrechtliche Genehmigung bekommen, die deutlich weniger Umweltschutz vorsieht als die alte.

Vattenfall hat also durch ein privates Streitschlichtungsverfahren sein Ziel erreicht, Umweltschutzstandards zu senken. Das zeigt: Konzerne können zwar nicht Gesetze verhindern oder verändern, sie können aber deren Durchsetzung beeinträchtigen.

Die private Streitschlichtung gibt es also auch jetzt schon. Warum soll sie dann nicht Bestandteil des TTIP-Vertrags sein?

Die private Streitschlichtung gibt es sogar schon seit einigen Jahrzehnten. Historisch kommt sie aus einer Zeit, in der Investitionen in bestimmten Ländern abgesichert werden sollten: In Ländern, die mit Korruption zu kämpfen haben – in denen demokratische Strukturen und funktionierende Gerichte fehlen. Sie ist in vielen bilateralen und einigen multilateralen Investitionsverträgen vorgesehen.

Würde sie jetzt allerdings zwischen Europa und den USA eingeführt, würde sich der Anteil von Investitionen, die weltweit unter privater Streitschlichtung verhandelt werden können, auf 60 bis 80 Prozent erhöhen. Das heißt, dass sich dieses System dann als Standard für Investitionsschutzfragen auf der ganzen Welt durchsetzen würde.

Und wir sehen bereits jetzt, dass in den vergangenen 15 Jahren private Schiedsverfahren drastisch zugenommen haben. Derzeit sind weltweit 608 Fälle bekannt, in denen Unternehmen Staaten verklagt haben. Es gibt aber eine Dunkelziffer, weil keine Informationspflicht besteht.

Warum gibt es mehr Klagen?

Weil die Möglichkeit bekannter geworden ist – dafür haben die gesorgt, die davon profitieren: die aus Anwaltskanzleien stammenden Streitschlichter. Sie machen regelrecht Werbung für ISDS.

Aber ist es nicht auch verständlich, dass Konzerne sich vor neuen Gesetzen oder staatlichen Maßnahmen schützen müssen? Zumindest dann, wenn sie Investitionen auf  Grundlagen getätigt haben, die plötzlich nicht mehr existieren.

Jedes Unternehmen hat – wie jeder Bürger – Rechte, und die sollen auch für Unternehmen nicht beschnitten werden. Hier geht es aber darum, dass eine zusätzliche Justiz geschaffen wird - außerhalb der normalen staatlichen Gerichtsbarkeit. In den USA und Europa gibt es rechtsstaatliche Systeme, die für alle gelten. Alle müssen sich an deren Regeln halten. Und wenn jemand meint, dass die Regeln ungünstig ausgelegt sind, gibt es rechtsstaatliche Möglichkeiten. Die private Streitschlichtung schafft jedoch einen zusätzlichen Weg.

Wohin das führen kann, zeigt ein weiteres Vattenfall-Beispiel: Vattenfall klagt gegen den Atomausstieg der Bundesrepublik Deutschland – zweimal. Einmal vor dem Bundesverfassungsgericht zusammen mit RWE und Eon. Die Unternehmen argumentieren, dass der Atomausstieg relativ rasch und unerwartet kam, da die Bundesregierung sich vor Fukushima noch von einem Ausstieg distanziert hatte. Sie hätten mit einem Weiterlaufen der Atomkraftwerke gerechnet. Deshalb die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Das ist ihr gutes Recht.

Zusätzlich hat aber Vattenfall als ausländisches Unternehmen vor einem Gremium in Washington ein privates Verfahren gestartet – zu demselben Thema, um dort zusätzlich 4,7 Milliarden Euro Schadensersatz zu verlangen. Ein Ergebnis liegt allerdings noch nicht vor.

Die Frage bleibt: Warum sollen ausländische Konzerne diese zusätzlichen Rechte erhalten, die nur ihnen zustehen? So etwas ist in demokratischen Strukturen eigentlich nicht vorgesehen.

Wie vertrauenswürdig sind private Schiedsgerichte?

Es gibt Fälle, über die wir überhaupt nichts wissen; andere sind zumindest teilweise dokumentiert. Dort sind  die Verfahrenstermine und die Namen der Streitschlichter bekannt, nicht aber unbedingt deren Entscheidungen. Die Schlichtersind von den beiden Streitparteien berufen worden – jede Partei darf einen Streitschlichter stellen, der dritte wird gemeinsam bestimmt. Die Streitschlichter sind niemandem außer ihrem Klienten gegenüber verantwortlich. Sie entscheiden nach einer eigenen Logik, die nicht unbedingt die Logik eines Bundesgerichts wäre. Dabei geht es ausschließlich um die Frage, ob Investitionen durch staatliche Maßnahmen zu Schaden gekommen sind. Ob Menschenrechte, Umwelt- oder Sozialstandards betroffen sind, spielt keine Rolle.

Das Bundesverfassungsgericht hingegen ist ein Organ des Staates, die Richter sind bekannt, die Urteile werden veröffentlicht und nicht in irgendeinem Hinterzimmer ausgehandelt.

Wie wahrscheinlich ist es, dass ein privates Gericht gegen den Staat entscheidet?

Es gibt neue Zahlen von der UN: In 60 Prozent der Fälle gewinnen die Unternehmen.

Die EU-Kommission hat Ende Februar 2016 vorgeschlagen, ISDS durch das ICS (Investment Court System) zu ersetzen. Klagen sollen also vor einem extra für TTIP geschaffenen internationalen Gericht verhandelt werden. Wie ist das zu bewerten? 

Der neue Vorschlag beinhaltet durchaus einige Verbesserungen: So sollen die Verhandlungen öffentlich sein; auch wird eine Berufungsinstanz eingeführt. Die Richter sollen nicht mehr von den streitenden Parteien, sondern für einen bestimmten Zeitraum von den USA und der EU bestellt werden. Dadurch werden die Verhandlungen erst einmal seriöser. Doch trotz des neuen Namens ist auch das neue System weiterhin ein Investor-Staat-Schiedsverfahren, also ein ISDS. 

Auch ist das ICS noch lange kein internationales Gericht. Denn es ist zunächst eine bilaterale Gerichtsinstanz zwischen den USA und der EU, welche paralell zu bestehenden Justizsystemen installiert wird. Auch gibt es keine festeingestellten unabhängigen Richter. Ob das ICS in einen internationalen Gerichtshof überführt wird, lässt die Kommission völlig offen.

Vor allem aber löst das ICS nicht das Grundproblem: Ausschließlich ausländische Investoren erhalten weiterhin das exklusive Recht, Staaten außerhalb der nationalen Gerichtsbarkeit zu verklagen. Wie bisher stehen den Rechten der Investoren keinerlei Pflichten gegenüber. Denn nach wie vor können in diesem System Investoren nicht verklagt werden – ihre Vergehen bleiben auch in diesem neuen System ungeahndet. Wäre ein internationaler Gerichtshof für Investitionsstreitigkeiten denn eine gute Lösung?

Die Idee ist nicht schlecht. Sie darf aber Konzernen keine Sonderrechte schaffen. Wenn der internationale Gerichtshof nicht nur über Rechte sondern auch Pflichtverletzungen von Investoren urteilen kann und auch nationale Gesetze beachten muss, ist er sinnvoll. Allerdings ist die Idee nicht neu – Greenpeace hat sich bereits im Jahr 2002 dafür eingesetzt. 

  • Porträtfoto von Jürgen Knirsch, Greenpeace-Experte für Handel. Er trägt eine grüne Jacke, im Hintergrund ist Meer zu sehen

    "In demokratischen Strukturen nicht vorgesehen"

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