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Heavy Rain Disaster in Southwest Germany
© Greenpeace

Neuanfang an der Ahr

Im Juli 2021 erlebte das Ahrtal eine beispiellose Flut, die viele Todesopfer forderte. Rainer Doemen hat die Katastrophe erlebt und setzt sich für einen nachhaltigen Wiederaufbau der Region ein.

Die Erinnerungen an den vergangenen Sommer sind noch frisch - und schmerzen. Im Ahrtal erlebten Menschen eine Überschwemmung, wie sie Deutschland noch nie gesehen hat, Menschen verloren in den Fluten ihr Hab und Gut, viele ihr Leben. Wie geht es an so einem Ort weiter? Rainer Doemen ist stellvertretender Bürgermeister der Stadt Remagen und setzt sich für die Initiative SolAHRtal ein: Der Wiederaufbau soll als Modellregion für Nachhaltigkeit und Erneuerbare Energien geschehen. Wir haben ein Jahr nach der Katastrophe mit ihm gesprochen.

Greenpeace: Haben Sie das Gefühl, das Land ist auf Extremwetterereignisse besser vorbereitet als vor einem Jahr?

Rainer Doemen: Was den Landkreis Ahrweiler und seinen Wiederaufbau anbelangt, kann ich immerhin sagen, dass hier eine große Sensibilität entstanden ist. Weil wir natürlich hier auch die gravierendste Flutkatastrophe mit 134 Todesopfern zu beklagen haben. Auf einer Länge von 70 Kilometern entlang der Ahr haben wir schwerste Zerstörungen erlebt, von Brücken, Bahnhöfen, Schienen, Straßen und Häusern. Es ist unvorstellbar, welche Kraft das Wasser hier entfaltet hat. Und ich glaube, dass diese Katastrophe auch zu einem neuen Denken hier im Landkreis geführt hat. 

Im Nachgang hat man natürlich den Katastrophenschutz analysiert, hat der funktioniert oder hat der nicht gut funktioniert? Das konnte man auch über die Medien sehr gut verfolgen. Und da passiert was: Wir werden jetzt mit einem frühzeitigen Warnsystem ausgestattet. Der Bevölkerungsschutz soll gestärkt werden. Im Gespräch sind Manöver, damit Kreis, Land und Bund lernen, wie sie in kürzester Zeit optimal zusammenspielen.

Wie haben Sie die Flutkatastrophe damals erlebt? Ab wann war für Sie klar, das ist kein normales Hochwasser?

Ich bin am 15. Juli abends an die B 266 gefahren. Die geht bei uns durch Remagen, wo ich wohne. Und ich konnte von der Straße eine Katastrophe sehen. Ich traute meinen Augen nicht, wie weit das Wasser stand: Diese kleine Ahr, die man sonst kannte! Vor allem, was dort alles an Müll dort abgelagert wurde, unzählige Flaschen aus Getränkekisten. Die Flut hat da im Grunde die ganze Sommerware weggespült. Wir haben dann am Wochenende ab dem 16. Juli angefangen, den Müll aufzusammeln. Das haben wir drei Monate gemacht in einem Naturschutzgebiet. Wir haben da insgesamt 108 Container gefüllt à 40 Kubikmeter. Stellen Sie sich einen LKW vor und dahinter packen Sie 117 doppelte Lastzüge. Das ist die Mülllmenge, die wir da in den drei Monaten rausgeholt haben. Das ist unvorstellbar viel.

Cleanup action at the Ahr Estuary after Flooding in Germany

Aufräumarbeiten mit Greenpeace-Freiwilligen im August 2021

Auch mit Hilfe von Aktivist:innen, die zum Teil aus anderen Landesteilen anreisten.

Ich fand sehr gut, dass Greenpeace auch vor Ort war und Bodenproben genommen hatte. Dieses Naturschutzgebiet, in dem wir gereinigt und gesäubert haben, ist ein ganz, ganz hochsensibles Gebiet. Wir waren dort dreimal die Woche mit freiwilligen Helfern, bis in den Oktober. Wir haben dabei eine Solidarität gelebt, die ich vorher noch nicht gekannt habe. 

Das zeigt mir aber auch: Wir sind dazu in der Lage, sehr, sehr zielorientiert zu arbeiten. Und wenn wir es schaffen, den Menschen zu erklären, was in der Klimakrise notwendig ist, mit Hilfe von Journalisten, mit Hilfe von Politikern, mit Hilfe von Regierungsverantwortlichen, die alle ein bisschen mehr Mut brauchen, dann können auch diese ambitionierten Klimaschutzziele erreicht werden.

Wie geht der Weg dorthin?

Wenn man den Klimaschutz bestmöglich machen wollen, dann können wir das nur erreichen durch einen Umbau des Energiesystems auf erneuerbare Energien und weitestgehend regional. Technisch ist das überhaupt kein Problem. Die Techniken stehen alle parat, die sind alle erprobt, einsetzbar und kostengünstig. Aber sie sind nicht propagiert worden, weder über die Zeitungsmedien noch über die Fernseh- und Rundfunkanstalten noch über die Politik auf Bundes- und Landesebene. Deswegen sind Kommunikation und Partizipation so wichtig in unserem Projektvorschlag. Wir wollen die 130.000 Bewohner des Landkreises Ahrweiler sensibilisieren, die Kraft der Sonne maximal zu nutzen und eben auch zur Windenergie eine andere Einstellung zu bekommen. Das ist ein echtes Problem in den Medien: Da sieht man oft sehr lancierte Beiträge, die nur negativ sind. Und das prägt sich der Bevölkerung ein. Wenn man niemandem mitteilt, dass der Umbau des Energiesystems auf erneuerbare Energien die Lösung ist, um den Klimaschutz bestmöglich voranzutreiben, ist da natürlich noch eine wahnsinnige Arbeit zu leisten.

Sie setzen sich damit für einen nachhaltigen Wiederaufbau und regenerative Energien in ihrem Zuhause, dem Ahrtal, ein. Ich lese da bei Ihnen von einem “ganzheitlichen Ansatz rund ums Wohnen, Arbeiten und Mobilität”. Können Sie das genauer erläutern? 

Das Ziel ist, eine Erneuerbare-Energien-Modellregion als Muster für mindestens ganz Deutschland zu schaffen. Also alle ländlichen Regionen können eigentlich mit diesem Projektvorschlag arbeiten, der sehr ambitionierte inhaltliche Ziele hat. Wir wollen die erneuerbaren Energien in den Sektoren Strom und Verkehr bis 2030 auf 100 Prozent umgestellt haben. Im Sektor Wärme wollen wir im Bestands- und Neubaubereich spätestens 2035 auf 100 Prozent Erneuerbare umgestellt haben. Damit das überhaupt möglich ist, müssen sie natürlich verschiedene Handlungsfelder abbilden, die auch Wechselwirkungen untereinander haben. Und all diese Wechselwirkungen und diese Handlungsfelder müssen in einem Projekt gebündelt werden, mit einer Projektleitung, einem Lenkungsausschuss, einem Steuerungskreis.

Welche Erfahrungen haben Sie mit den Leuten vor Ort gemacht: Ist da große Akzeptanz oder auch Skepsis? 

Große Skepsis herrscht immer dort, wo etwas Neues propagiert wird. Von seinem Wesen her freut sich der Mensch, wenn er keine Veränderung braucht. Nach dem Motto: Der Strom kommt aus der Steckdose, und da brauchte ich mich auch noch nie drum zu kümmern. Und das Verwaltungshandeln ist überhaupt nicht auf Ausnahmesituationen und die Bekämpfung von Katastrophen ausgelegt. Da heißt es “Und täglich grüßt das Murmeltier”. Insofern kann ich die Skepsis dort durchaus nachvollziehen. Aber wenn Journalisten hier mit mit Bürgern sprechen und sagen, hör mal, du willst doch jetzt dein Haus wieder neu aufbauen. Hast du schon mal über eine Photovoltaikanlage nachgedacht? Da sagt der Bürger natürlich: Na klar hab ich da schon mal drüber nachgedacht. Aber die Kenntnisse, die er eigentlich jetzt bräuchte, um das zu realisieren, die sind in der Regel gar nicht vorhanden - weil man sie den Leuten nie mitgeteilt hat! In den vergangenen Jahren wurde der Aus- und Zubau von Photovoltaik und Windkraftanlagen mit einer Überbürokratisierung faktisch ausgebremst. Sie können ja heute keine Photovoltaikanlage mehr auf ihr eigenes Dach setzen, ohne einen Aktenordner halb gefüllt zu haben mit Formularen, was sie alles zu beachten haben. Das schreckt ab. Der Bürger muss motiviert werden. Wir wollen über Partizipation und Kommunikation letztlich Akzeptanz und Wissen schaffen, bis es zu einem Mitmacheffekt kommt.

Ein pädagogischer Ansatz also.

Der ist ganz wichtig. Denn der Umbau der Energie des Energiesystems auf Erneuerbare ist eine rein soziokulturelle Aufgabe. Das ist die größte gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Menschheit. Dessen sind wir uns bewusst. Aber die kann nur über Kommunikation und Partizipation funktionieren. Und wir hoffen, dass auch der Journalismus, die öffentlich-rechtlichen Medien das aufmerksam verfolgen und eben auch erkennen, dass das der einzige Weg ist. Es ist ja durchgerechnet, weltweit, und steht wissenschaftlich auf sicheren Füßen. Wenn wir das ganze Energieversorgungssystem auf Erneuerbare umstellen, reduzieren wir die Treibhausgasemissionen dauerhaft nachhaltig um 80 Prozent. Es gibt keinen besseren Klimaschutz.

Wo liegen die politischen Hemmnisse?

Wenn sie den aktuellen Bericht des IPCC lesen, werden die Zeitfenster des Handelns immer enger. Das heißt, wer weniger als 100 Prozent Erneuerbare bis 2030 für Strom und Verkehr und 2035 für Wärme fordert, ist überhaupt nicht vernünftig wissenschaftlich orientiert unterwegs. Wir stehen mit unserer Modellregion bereit mit einem reichhaltigen, köstlichen und leckeren Buffet. Aber wir können im Moment die politischen Entscheidungsträger nur dazu einladen: Setzt euch doch bitte mit uns an den Tisch. Aber wir kriegen den Runden Tisch nicht besetzt, der zur Umsetzung zusammenkommen muss.