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Porträt von Martin Kaiser, Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland
© Lucas Wahl / Greenpeace

Atomkraft – keinen Tag länger!

Warum wir weiter für den Atomausstieg am 31.12.2022 sind.

Erinnern wir uns: Der Atomausstieg war eine Entscheidung, die in einem breiten gesellschaftlichen Konsens getroffen wurde. Dass nach dem 31.12.2022 deutsche Atomkraftwerke keinen Strom mehr produzieren sollen, beschloss damals sogar eine Koalition aus CDU/CSU und FDP. Der Schlussstrich war notwendig geworden: Nach den atomaren Gau von Tschernobyl, Harrisburg, führte spätestens die Katastrophe von Fukushima im März 2011 der ganzen Welt vor Augen, dass Nuklearenergie im Katastrophenfall unbeherrschbar ist. Der Atomausstieg folgte den Argumenten; sie sind heute so unwiderlegbar wie vor zehn Jahren. 

Wenn sich nun derselbe schwarz-gelbe Schulterschluss, der dem deutschen Atomausstieg den Weg ebnete, für Laufzeitverlängerungen ausspricht, ist das ein rein populistisches Wendehals-Manöver. Was Atomkraft noch zur Energiesicherheit beiträgt, ist verschwindend gering, das hat der zweite Stresstest des Bundeswirtschaftsministerium deutlich gezeigt – auch denjenigen, die längere Laufzeiten befürworten. Fakt ist aber auch: Die kommenden Monate werden schwierig, und wir brauchen Lösungen. Atomkraft ist die falsche Antwort, allerdings auf eine richtige Frage. 

Sie lautet: Wie kommen wir gut durch die kommenden Winter? Die Bundesrepublik Deutschland hat sich – trotz Warnungen vor Putins autokratischen Regime – mit günstigen Gaslieferungen in eine energiepolitische Abhängigkeit von Russland begeben, die wir nun zu spüren kriegen: etwa wenn die Temperatur in Büros und Wohnräumen heruntergeregelt wird und Innenstädte auf einmal dunkler sind. Wir werden nicht durch diese Krise kommen, ohne sie überall im Alltag zu bemerken. Doch dabei ist es gleichgültig, ob in Bayern oder Niedersachsen Meiler mit kaum noch Restenergie ausglühen: Die letzten drei Atomkraftwerke würden im so genannten Streckbetrieb nur noch 0,8 Prozent der Stromversorgung gewährleisten und weniger als 0,2 Prozent des Gasverbrauchs einsparen. Mit einer Stromproduktion von maximal fünf Terawattstunden können die AKW die Strompreise nicht merklich senken (an der Strombörse EEX schwankte der Preis der 2023er-Grundlast allein binnen einer einzigen Stunde schon zwischen 505 und 530 Euro, dem gegenüber stehen theoretisch errechnete fünf Euro an Preissenkung durch den Streckbetrieb, welche im ständigen Auf und Ab verschwinden würden). Das hohe Sicherheitsrisiko allerdings bleibt voll bestehen. Doch wer die maximal aufgeregte Debatte um Laufzeitverlängerungen verfolgt, könnte meinen, dass die deutsche Versorgungssicherheit komplett am Tropf der Atomkraft hängt.

Was wir brauchen, sind vernünftige Energiesparkonzepte, einen Abregelungsplan für die Wirtschaft im Falle der paar Minuten, die als Blackout-Möglichkeit im schlimmsten Stresstest-Szenario skizziert werden, und einen schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien – das bedeutet unter anderem einen Bürokratieabbau bei der Genehmigung von Solar- und Windkraftanlagen. Dass sich ausgerechnet der bayerische Ministerpräsident Markus Söder so vehement für einen Weiterbetrieb des Atommeilers Isar 2 ausspricht, ist kein Zufall: Kein Bundesland hat die Energiewende derart verschleppt wie Bayern. Das Versäumnis ist nicht mehr ungeschehen zu machen; doch die Fehler der Vergangenheit rechtfertigen nicht, folgenschwere Fehler in der Gegenwart zu begehen.

Wenn sich Friedrich Merz und Markus Söder publikumswirksam in Helmen und Overalls durch das Atomkraftwerk Isar 2 führen lassen, zeugt das von einem blinden Technologievertrauen, das die Wirklichkeit längst abgeräumt hat. Wegen Wartungsstau und niedrigen Wasserständen liefern in Frankreich derzeit nicht einmal die Hälfte der dort stehenden Atomreaktoren Strom. Es wirkt fast ironisch, dass kurz nach dem CDU/CSU-Besuch Isar 2 ein leckes Ventil meldete. An all dem können wir sehen: Atomkraft ist nicht die Zukunft, sondern die Technik von gestern. 

Wie verwundbar und gefährlich die Technologie ist, zeigt der Blick in die Ukraine, wo das größte Atomkraftwerk Europas, Saporischschja, immer wieder unter Beschuss steht. Die Reaktorruine von Tschornobyl wiederum war im Krieg zeitweilig ohne Stromversorgung, zur großen Sorge von Expert:innen – ein Ausfall der Kühlung würde auch Jahrzehnte nach dem GAU noch zu einer Katastrophe führen. Atomunfälle sind ein Problem von enormer Dauer, das führte das Drama erneut vor Augen. 

Die Art und Weise, auf die wir zum großen Teil auch andere Energieträger für unseren Verbrauch bereitstellen, ist nicht vor Angriffen und Sabotage gefeit. Das zeigen auch die Lecks in den Pipelines NordStream 1 und 2, die höchstwahrscheinlich auf Anschläge zurückzuführen sind. Die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hat darum angekündigt, Belastungstests für kritische Infrastrukturen in Europa durchzuführen. Es gibt allerdings Arten der Stromerzeugung, die emissionsarm, von Autokratien unabhängig, sicher und im Angriffsfall keine folgenschweren Auswirkungen haben: die erneuerbaren Energien.

Noch ist das Bestellen neuer Brennelemente eine rote Linie, die von SPD und Grünen in der Regierung nicht angetastet wird. Aus gutem Grund. Atomkraft in Europa bedeutet stets Energieabhängigkeit von Russland, nahezu die Hälfte der in europäischen Atomkraftwerken verwendeten Brennelemente stammen aus Russland oder Kasachstan. Derzeit arbeitet die deutsche Politik mit Hochdruck daran, die Abhängigkeit von Russland zu kappen – sie durch die Hintertür wieder zu stabilisieren, wie es aus den Reihen der Opposition und vom liberalen Teil der Regierungsbänke zu hören ist, wirkt da wie ein Akt der Selbstsabotage.

Die konsequente Haltung von Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace zum Atomausstieg am 31.12. ist gesellschaftlich nicht einfach, wir spüren viel Gegenwind. Atomkraftgegner:innen wird vorgeworfen, sie seien unsolidarisch, ideologisch verblendet und nicht zu Kompromissen bereit. Nichts davon stimmt. Wir sind solidarisch mit unseren Kindern, die kein noch größeres Endlagerproblem von uns erben sollen, als sie es ohnehin bereits müssen, und solidarisch mit einer starken deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung, die hartnäckig und friedlich für saubere Energien gekämpft und sich auf den gesellschaftlichen Konsens von 2011 zum Atomausstieg Ende diesen Jahres verlassen hat. 

Wir orientieren uns ausschließlich an Fakten: Atomkraft ist teuer, unzuverlässig und hoch gefährlich. Unser Bestehen auf den Ausstieg ist Vernunftspolitik, das Gegenteil von Ideologie. Und die Kompromissbereitschaft? Der 31.12. ist bereits ein Kompromiss. Der Ausstieg kommt nicht zu früh, sondern zu spät – die deutschen Atomkraftwerke müssen alle zehn Jahre sicherheitsüberprüft werden, der letzte Check fand jedoch 2009 statt. Drei Jahre hoffen zu müssen, dass es nicht zu einem schweren Unfall in einem unüberprüften Reaktor kommt, ist genug.

Wir haben durch das Festhalten an einer Hochrisikotechnologie nichts zu gewinnen, aber unbegreiflich viel zu verlieren. Deswegen bleiben wir bei unserer Forderung: Keinen Tag länger! Denn wir  haben schon zu lange gewartet

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