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Artenreiche Mangrovenwälder in Senegal

Kipppunkte im Klima gefährden auch die Artenvielfalt

So wie in den Mangrovenwäldern Senegals. Ihr Bestand ist auf Grund von klimawandel-bedingten Dürreperioden bereits um 40 Prozent zurückgegangen.

Im Umfeld von Klima- und Artenkrise fällt immer wieder der Begriff des Kipppunktes. Aber was ist damit eigentlich gemeint?

Um einen Kipppunkt bildlich und vereinfacht zu erläutern, stelle man sich Folgendes Szenario vor: Eine volle, aufgerissene Müslitüte steht auf dem Tisch. Die Packung steht stabil aufrecht, da sich der Schwerpunkt in der Mitte der Packung befindet. Nun beginnt jedoch, durch den Riss, langsam Müsli herauszurieseln. 

Dieses langsame, aber dauerhafte Herausrieseln des Müslis verlagert nach und nach den Schwerpunkt der Packung. Wenn zu viel Müsli aus der Packung herausgefallen ist, kann es passieren, dass der Schwerpunkt sich so weit verlagert, dass die Packung umkippt und das restliche Müsli auf dem Tisch verteilt wird. Dieser Kipppunkt stellt den Moment dar, an dem das System (in diesem Fall die Müslipackung) einen drastischen und nicht umkehrbaren Wandel durchlaufen hat.

Und wie dieses hat auch die Erde eine ganze Reihe von Kippsystemen, die an bestimmten Punkten umkippen und so den “point of no return” überschreiten. 

Kipppunkte sind meist unumkehrbar

Die Schwäche solcher Vergleiche ist, dass sie nicht zeigen, wie kompliziert das alles eigentlich ist. Eine Müslipackung kippt, sobald zu viel Müsli herausgefallen ist. Das ist einfach. Die Kipppunkte im globalen Erdklima- oder Biodiversitätssystem sind im Vergleich dazu erheblich komplexer, da sie sich gegenseitig beeinflussen.

Eines zeigen Analogien wie die Müslipackung aber gut: Komplexe Systeme können eine Zeitlang einfach und stabil erscheinen – aber ab einem bestimmten Schwellenwert werden sie selbst durch kleinste Änderungen instabil und kippen chaotisch in einen neuen, anderen, gegenüber dem Ursprung meist negativen Zustand: Der Müslipackung fällt um, verteilt das restliche Müsli auf dem Tisch und ab diesem Zeitpunkt kann die Packung nicht mehr aufgerichtet werden. Auch bei Klima- und Artenkrise sind die Effekte überschrittener Kipppunkte unumkehrbar.

Brennender Regenwald im Amazonas

Waldbrände und Rodung zerstören das Ökosystem Regenwald und bringen es zum kippen

Kipppunkte in den Ökosystemen der Biosphäre

Wichtige Kippelemente liegen in den großen Ökosystemen, wo sie die Biodiversität verändern und  sich das Artensterben ab einem bestimmten Punkt selbst verstärkt. Die Veränderungen der Artenvielfalt haben wiederum Einfluss auf das Klima.

  • Amazonas-Regenwald: Er gilt als eines der großen Kippelement-Systeme der Erde, sein Verschwinden hätte enorme Auswirkungen. Er beherbergt eine Vielzahl an Ökosystemen und ist damit eines der weltweiten Gebiete  mit außergewöhnlich hohem Artenreichtum. Zum Kippen bringt ihn die Mischung aus Rodung, meist um das Land für die Landwirtschaft und speziell für Tierfutter-Soja nutzen und dem sich erhitzende Erdklima: die Menge des Verdunstungswassers nimmt ab,, welches zugleich die wichtigste Quelle für den Regen ist. Seit einiger Zeit beobachten Forschende, dass der Regenwald immer mehr die Fähigkeit verliert, sich von Bränden oder Dürren zu erholen. Außerdem besorgniserregend:   Der Amazonas-Regenwald gibt inzwischen  (durch Brände) mehr CO2 ab als er bindet.
  • Westafrikanischer Monsun: Der westafrikanische Monsun  bestimmt weitgehend die Regen- und Trockenzeiten in Westafrika. Unter Anderem haben aber die globale Erwärmung, Luftverschmutzung und wachsende Agrarflächen zur Folge, dass sich Monsunregen in Dauer und Intensität verändern und verschieben. Das hat auch Auswirkungen auf die Vegetation und Artenvielfalt im Sahel. Würde die Sahelzone ergrünen, was durchaus möglich ist, würde das wahrscheinlich auch die regionalen Niederschlagsmengen erhöhen. Die Kipppunkte des westafrikanischen Monsuns gelten als noch nicht besonders gut untersucht, aber Forschenden macht es unter anderem Sorgen, dass der westafrikanische Monsun auch den Monsun in Asien beeinflusst – was wiederum Einfluss auf das Weltklima hat.
  • Nordische (boreale) Nadelwälder: Fast ein Drittel der weltweiten Waldgebiete entfallen auf die nordischen Nadelwälder. Die Wälder dieser “Taiga” werden durch die Klimakrise verändert: Durch die Erwärmung breiten sie sich einerseits nach Norden aus, ziehen sich andererseits im Süden zurück. Im Norden entstehen durch die dunklen Wälder so Flächen, die vorher von hellem Eis und Schnee bedeckt waren und das Sonnenlicht reflektiert haben. Bei den dunklen Flächen fehlt diese “Albedo” und so verstärkt sich die Erdererhitzung. Im Süden gibt es mögliche Kipppunkte, wenn zunehmende Waldbrände und Borkenkäferbefall das Sterben der Wälder beschleunigen. Wo der Nadelwald verschwindet, bleiben im Süden Steppen und Prärien, die weniger Kohlenstoff binden. Der durch Waldverluste freigesetzte Kohlenstoff heizt die Klimakrise weiter an.
  • Korallenriffe der Tropen und Subtropen: Sie gehören zu den biodiversitätsreichsten Ökosystemen der Erde. Ihr Ende hätte das Verschwinden des größten Artenschatzes der Meere zur Folge , wodurch zahlreiche Nahrungsnetze zerreißen würden – der Einfluss auf das Leben von Millionen Menschen wäre enorm. Die Korallenriffe bieten außerdem einen natürlichen Schutz gegen Sturmfluten. Die Riffe werden hauptsächlich durch die steigenden Meerestemperaturen und die zunehmende Ozeanversauerung zerstört:: Ab einer bestimmten Wassertemperatur stoßen die Korallen ihre Algen-Symbionten ab, und damit sterben die Riffe. Das Potsdam-Institut für Klimaforschung geht zum Beispiel davon aus, dass dieser Kipppunkt in der Wassertemperatur bereits bei 1,5 Grad Erderhitzung erreicht wird und es  ab dann etwa zehn Jahre dauert, bis die Korallenriffe verschwunden sind.
Boreal Forest - Montagnes Blanches, Quebec

Die borrealen Nadelwälder sind von der Klimakrise betroffen. Auch hier befindet sich ein kritischer Kipppunkt im Erdsystem.

Grad.jetzt – wo Klima und Ökosysteme kippen

Für ihre Reportage-Reise grad.jetzt besuchten Naturfotograf Markus Mauthe und Journalistin Louisa Schneider verheerende Waldbrände in Brasilien, sprachen mit einem Meteorologen über den Regenwald als Kipppunkt und dokumentieren in Senegal die Auswirkungen der Klimakrise auf den Monsunregen. Besuchen Sie den Instagram-Kanal grad.jetzt, um mehr über den Zusammenhang von Biodiversität, Klimakrise und Kipppunkten zu erfahren.

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Kipppunkte der Strömungen haben globale Wirkung

Andere Kipppunkte befinden sich im globalen Meereströmungssystem, dem sich drehenden Band aus warmen und kalten Wassermassen und seinem Einfluss auf das planetare Klima. Durch die Erderhitzung nähern sich die interagierenden Systeme der Eismassen  und der Strömungen immer mehr ihren Kipppunkten. 

  • Atlantische Umwälzzirkulation: Wie ein gewaltiges Energieförderband transportiert diese Strömung warmes Wasser an der Oberfläche in den Norden. Nachdem es dort abkühlt und absinkt, strömt es in der Tiefe in entgegengesetzter Richtung wieder in den Süden. Steigende Temperaturen und durch die Eisschmelze bedingte  Änderungen im Salzgehalt verändern  diese Zirkulation: Sie schwächt sich ab und könnte sogar ganz versiegen. Die resultierende Verschiebung von Klimazonen hätte Auswirkungen auf alles pflanzliche und tierische Leben. 
  • Zirkulation im Labrador- und Irminger Meer: Auf der nördlichen Erdhalbkugel gibt es einen subpolaren Wirbel, der eine Umwälzströmung aufweist. Etliche Modelle zeigen seinen Kollaps als Folge globaler Erwärmung. Als Schwellwert für den Kipppunkt nimmt das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hier zum Beispiel bereits 1,8 Grad Erderwärmung an. Die Folge wären mehr Extremwetter in Europa und eine Verschiebung des Tropengürtels. Die Dauer des Prozesses wird auf etwa zehn Jahre geschätzt – die betroffenen Arten würden sich so schnell nicht anpassen können.

Werden die Kipppunkte der großen Strömungen erreicht, ändern sich entscheidende Faktoren für das jeweils regionale Klima. Vor allem Tropenwälder und Savannenökosysteme wären betroffen und würden sich sehr stark verändern. Diese Veränderungen wirken wiederum selbst auf das Klima ein und erzeugen so in vielen Fällen verstärkende Rückkopplungseffekte.

Landscape in the Savanna in Kenya

Viele Pflanzen reagieren sehr sensibel auf Schwankungen der Temperatur und des Kohlenstoffdioxidgehaltes in der Erdatmosphäre. Speziell in Ökosystemen wie den Savannen Afrikas droht durch den Klimawandel eine nachhaltige Störung des fragilen Gleichgewichtes.

Kipppunkte der Eisbereiche gefährden Klima und Leben

Viele Kippelemente befinden sich in den großen Eissystemen der Erde, der sogenannten Kryosphäre. Hier einige globale Beispiele:

  • Gebirgsgletscher: Mit dem Abschmelzen der Gletscher verlieren die davon abhängigen Gebiete auch deren Schmelzwasser. Die Folge: sinkende Grundwasserspiegel, Probleme mit der Trinkwasserversorgung und Flüsse, die zu Rinnsalen werden, mit entsprechenden Artenverlusten in den betroffenen Gebieten. An den Gletschern des Himalaya, der schätzungsweise bis 2040 eisfrei sein soll, lässt sich dies bereits beobachten. 
  • Grönland: Aufgrund der Erderhitzung verliert das Gletschersystem sein Eis und das Gleichgewicht von jährlicher Eis-Neubildung und Eisschmelze verschiebt sich zugunsten der Schmelze. Das lässt den Meeresspiegel global weiter ansteigen, mit Gefahren für Mensch und Artenvielfalt in den sich verändernden Küstengebieten.
  • Arktisches Winter-Meereis: Typischerweise nur einige Zentimeter dick, reflektiert es das Sonnenlicht und damit viel Energie in den Weltraum. Doch die von Meereis bedeckte Fläche geht zurück. Und während früher die Eisflächen über mehrere Jahre dominierten, müssen sie sich jetzt jährlich neu bilden. Entsprechend sind sie dünner und schmelzen im Sommer leichter. Es bildet sich eine Rückkopplung, denn eisfreies Meer kann mehr Sonnenenergie aufnehmen und erwärmt sich schneller.
  • Boreale Permafrostböden: Die nördlichen Breiten der Erde sind das ganze Jahr über gefroren. Sie speichern dabei geschätzt etwa 25 Prozent des gesamten Bodenkohlenstoffs der Erde. Die Klimaerwärmung verändert vieles auf einmal: Die Böden sind länger aufgetaut und brauchen länger bis sie wieder einfrieren. Sie tauen daher auch in zunehmenden Tiefen ab, die Fläche der Permafrostböden schrumpft. Das verursacht ein Mehr an Zersetzungsvorgängen, bei denen Wärme, Methan und CO2 entweichen, die wiederum das Klima anheizen. Auch hier wieder: Das Resultat der Erderwärmung beschleunigt ab einem gewissen Kipppunkt die globale Erwärmung noch weiter.

Weitere Kippelemente befinden sich vor allem in der Antarktis. Die Erwärmung der Ozeane nagt hier von unten an den Eisschilden und lässt sie schmelzen. Die langfristigen Folgen sind vor allem eine Erhöhung des Meeresspiegels mitsamt Schäden für die Biodiversität von Küstengebieten.

Arctic Sunrise off Greenland

Das Greenpeace Schiff Arctic Sunrise, zwischen Treibeis und Eisbergen, vor dem Helheim-Gletscher im Sued-Osten von Groenland. Die Arctic Sunrise Crew untersucht zusammen mit Wissenschaftlern des Woods Hole Oceanographic Institute (USA) die Auswirkungen des Klimawandels auf die Arktis.

Kipppunkte kippen nicht nur das Klima, sondern auch die Biodiversität

Es wird Zeit, Kipppunkte nicht mehr nur als rein klimatisches Problem zu sehen. Die Veränderung, meist Erhöhung regionaler Temperaturen, die örtliche Verschiebung von Temperaturzonen und die damit einhergehenden Veränderungen von Niederschlägen bleiben nie ohne Folgen für die Ökosysteme und ihre Artenvielfalt. 

Die bislang dokumentierten Kippelemente sind daher in vielen Fällen nicht nur Kipppunkte des Klimas, wie etwa die Gletscher und Eisschilde, nach deren Verlust die Temperaturen noch schneller steigen werden. Es sind auch Kipppunkte der Biodiversität, wenn etwa der Verlust der Wälder auch den Verlust der darin enthaltenen Tiere, Pflanzen und Pilze nach sich zieht, oder, wie bei den Korallen, das gesamte Nahrungsnetz der Meere beeinflusst.

Oft gehen mit den Ökosystemen und ihrem Artenreichtum auch stabilisierende Faktoren für das Erdklima verloren, was die Klimakrise weiter beschleunigt. Die Klimakrise ist immer auch eine Artenkrise und wir müssen beide gleichermaßen bewältigen. 

 

Plastik im Meer - auch am Great Barrier Reef

Korallen gehören zu den artenreichsten Ökosystemen der Erde. Durch die Erwärmung der Meere sind sie stark gefährdet – ein Anstieg von 1,5 Grad Celsius würde den Verlust von bis zu 90 Prozent aller Korallenriffe bedeuten.

Kippelemente aufhalten – Maßnahmen zum Schutz von Arten und Ökosystemen 

Um Kippelemente erst gar nicht zum Kippen zu bringen oder bereits in Gang gesetzte Prozesse zu verlangsamen, müssen strenge Maßnahmen ergriffen werden. Jede Art von Klimaschutzmaßnahme ist auch eine Maßnahme zum Schutz von Arten und Biodiversität. Schutzgebiete im Wald und im Meer helfen beispielsweise ganz konkret, dass sich Arten von den Auswirkungen der Klimakrise und menschengemachter Umweltzerstörung erholen können.

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