Interview: Wie hoch ist das Risiko für einen Atomkrieg?
- mitwirkende Expert:innen Alexander Lurz
- Im Gespräch
Im Ukrainekrieg verschärft der russische Präsident Wladimir Putin seine Drohung, eine Atombombe einzusetzen – westliche Politiker:innen betonen, dass sie sich nicht „erpressen“ lassen. Wie groß ist die Gefahr? Fragen an Alexander Lurz, Greenpeace Abrüstungs- und Sicherheitsexperte.
US-Präsident Joe Biden warnt vor einem „Armageddon“. Wie groß ist das Risiko, dass Putin tatsächlich zur Atombombe greift?
Das Risiko ist durchaus real. Putin verfügt über so genannte taktische Atomwaffen, häufig auch Gefechtsfeldwaffen genannt. Die Schwelle, diese „kleinen“ Atomwaffen einzusetzen, ist viel geringer als sie zuvor bei „großen“ Atombomben war – Sicherheitsexperten warnen deshalb schon seit Jahren, dass die Gefahr eines Atomkrieges heute größer ist als im Kalten Krieg. Das macht gerade diese taktischen Atomwaffen so gefährlich. Es gibt aber auch Gründe, die gegen einen Einsatz sprechen. Putin dürfte klar sein, dass Russlands internationale Isolation sich mit einem solchen Einsatz nochmals massiv vergrößern würde. Selbst Verbündete wie China oder Indien dürften sich dann von ihm abwenden, Russland wäre für Jahrzehnte der Paria der internationalen Politik.
In welcher Situation könnte der Einsatz für ihn dennoch irgendwie Sinn ergeben?
Wenn er mit dem Rücken zur Wand steht – etwa wenn die russische Armee vor einer zerschmetternden Niederlage stünde oder der Kollaps seiner eigenen Herrschaft, also sein Sturz droht. Letztlich muss man konstatieren: Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat Putin bereits ein faktisches Tabu der europäischen Nachkriegspolitik gebrochen, nämlich die Invasion eines Nachbarlandes mit dem Ziel, das eigene Territorium zu vergrößern. Deshalb sind ihm weitere Tabubrüche zuzutrauen.
Was kann man tun, um eine solche Eskalation zu verhindern?
Alle Beteiligten müssen sich vor Augen führen, dass das eigene Handeln den nächsten Eskalationsschritt auslösen kann. Deswegen ist die westliche Unterstützung für die Ukraine auch partiell begrenzt. So haben die USA beispielsweise einen Plan Warschaus, polnische Kampfflugzeuge an die Ukraine zu liefern, gestoppt. Washington selbst liefert Raketenwerfer, aber dafür nur Raketen mit begrenzter Reichweite, so dass Angriffe tief in russisches Gebiet hinein nicht möglich werden. Innerhalb der großen Eskalation Krieg bemüht man sich also in gewisser Hinsicht gleich um Deeskalation. Das ist in all dem Chaos, das ein Krieg bedeutet, kein wirklich sicherer Weg. Wesentlich sind daher auch offene Gesprächskanäle nach Russland, damit man auf die Wahrnehmung und das Handeln von Putin Einfluss nehmen kann. Es ist allerdings nicht nur Sache der USA oder anderer westlicher Staaten, deeskalierend zu wirken. Insbesondere Staaten mit engen und freundschaftlichen Beziehungen zu Moskau sind gefordert.
Gibt es denn überhaupt noch Chancen dafür?
Jeder Krieg wird letztlich in irgendeiner Form durch Regeln begleitet. Auch wenn es noch so brutal und chaotisch wirkt – es gibt Dinge, auf die sich Konfliktparteien einigen können. Wenn rote Linien existieren, die auch gegenseitig kommuniziert sind, wirkt das einhegend und sorgt dafür, dass dieser Krieg nicht vollkommen eskaliert. Normalerweise gibt es auch noch diplomatische Kanäle, die man nutzen kann.
Was kann Deutschland tun?
In dieser Phase sind Feststellungen wie die von Gesundheitsminister Lauterbach, dass „wir (…) im Krieg mit Putin“ seien, wenig hilfreich. Dass Bundeskanzler Scholz den direkten Kontakt zu Putin hält, so zäh und wenig ergiebig das auch sein mag, ist hingegen richtig und notwendig. Der Einsatz einer Atombombe hätte potentiell so dramatische Folgen, dass alle Mittel ausgeschöpft werden müssen, um das zu verhindern. Die Bundesregierung könnte zum Beispiel in Aussicht stellen, nach Ende des Krieges in der Ukraine auf die nukleare Teilhabe, also die Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland, die im Ernstfall mit deutschen Kampfflugzeugen eingesetzt werden würden, zu verzichten. Dies wäre ein klares deeskalierendes Signal und eines, das zugleich in die Zukunft weist.
Viele Politiker geben sich aber immer noch eher betont unbeeindruckt…
Das verwundert tatsächlich. Manche Politiker:innen und Kommentator:innen warnen immer davor, wie unberechenbar und skrupellos Putin wäre, attestieren ihm dann aber, wenn es um den Einsatz von Atomwaffen geht, Rationalität und die Fähigkeit zur Mäßigung. Das passt natürlich nicht zusammen und zeigt letztlich die Ohnmacht, die die schiere Existenz dieser ultimativen Waffe zur Folge hat. Auch wenn der Wunsch noch so groß ist, sich nicht erpressen zu lassen, lässt sich die Existenz einer Atombombe nicht negieren. Indem man die Augen vor einer Gefahr verschließt, geht die Gefahr ja nicht weg. Wir sprechen von der potentiellen nuklearen Verstrahlung einer großen Region mit womöglich unzähligen Toten. Schon das kleine Restrisiko, dass es dazu kommt, ist nicht akzeptabel. Hier braucht es das Verantwortungsgefühl der Politik, die Menschen davor auf jeden Fall zu schützen. Und den besten Schutz dagegen bietet eben die Diplomatie – nicht die US-Atomwaffen oder andere Waffen.
Viele glauben aber auch, nur die westlichen Atomwaffen hielten Putin davon ab, seine einzusetzen – also dass die atomare Abschreckung eigentlich gut funktioniert.
Das ist eine – scheinbare – Gewissheit aus dem Kalten Krieg. Betrachtet man zum Beispiel die Kuba-Krise, bei der sich der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion bis kurz vor einem nuklearen Schlagabtausch zuspitzte, so muss man sagen, dass die Menschheit da mehr Glück als Verstand hatte. Nur annähernd zu glauben, dass man ein solches Szenario, bei dem unzählige Akteur:innen involviert sind, alle Beteiligten unter unglaublichem Stress stehen und jede Kommunikation zwischen den handelnden Politiker:innen dann auch noch eigentlich klar und fehlerlos sein müsste, unter Kontrolle haben könnte, ist geradezu absurd. Es ist ein Hasard-Spiel – bei dem leider das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht.
Wie hoch wäre die unmittelbare Gefahr für Deutschland, wenn Putin eine Atomwaffe einsetzt?
Das hängt natürlich vom konkreten Einsatzszenario ab. Sollte Putin zum Beispiel einen unterirdischen Atomtest durchführen – das wäre auch das am wenigsten aggressive Szenario -, wäre die Gefahr einer nuklearen Eskalation gleich Null. Das häufig genannte Szenario einer Explosion über dem Schwarzen Meer hat bereits ein deutlich höheres Eskalationspotential. Ein atomarer Angriff auf die Ukraine birgt ein wesentlich erhöhtes Risiko eines nuklearen Schlagabtausches zwischen dem Westen und Russland. Das beträfe dann direkt auch Deutschland.
In jedem Jahr gedenkt die Welt den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki. Was Atomwaffen anrichten können, ist der Menschheit also mehr als bekannt. Dennoch befinden wir uns jetzt im Jahr 2022 wieder in einer Situation, in der der Einsatz dieser Waffe als konkret möglich angesehen wird. Wie konnte es so weit kommen?
Mit dem Besitz von Atombomben ist Macht und Prestige verbunden – entsprechend gering ist das wahre Interesse von Atomwaffenstaaten, vollständig abzurüsten. Deshalb braucht es den starken und kontinuierlichen Druck der Nicht-Atomwaffenstaaten, der Zivilgesellschaft, aber auch von Politiker:innen in den Atomwaffenstaaten und deren Verbündeten, etwas zu ändern. Trotz vieler Sonntagsreden hat es gerade bei Letzterem in den letzten zwei Jahrzehnten an vielem gefehlt. Ein gutes Beispiel ist dafür die Ampel-Koalition in Berlin: Sowohl SPD und Grüne haben sich die nukleare Abrüstung in Großbuchstaben auf die Fahnen geschrieben. Kommt es dann aber zum Schwur, dem Koalitionsvertrag, findet sich darin plötzlich das Bekenntnis von SPD und Grünen, neue Kampfflugzeuge für die nukleare Teilhabe zu kaufen. Wenn selbst Deutschland, dessen Anteil an der nuklearen Abschreckung der NATO kaum messbar ist und das weder echte Macht noch Prestige aus der eigenen Rolle als Atomwaffenstaat dritten Ranges zieht, nicht auf eine eigene atomare Rolle verzichten will – dann muss man sich nicht wundern, wenn es mit der atomaren Abrüstung kaum vorangeht.