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Strahlenmessung in einer Schule in Fukushima durch Greenpeace-Strahlenexpertin Iryna Labunska.
© Noriko Hayashi / Greenpeace

Verstrahlte Gegenwart, verstrahlte Zukunft

Welche gesundheitlichen Gefahren drohen den Menschen in Fukushima? Wie können Ärzte bei Verstrahlung helfen? Was hat Tschernobyl uns gelehrt? Ein Interview mit Dr. med. Alex Rosen, Kinderarzt in Düsseldorf. Alex Rosen ist Mitglied der Organisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs).

Online-Redaktion: Wie schätzt die IPPNW die gesundheitliche Gefährdung der Menschen im Umfeld von Fukushima 1 derzeit ein?

Alex Rosen: Direkte Strahlung, beispielsweise durch Gammastrahlen, betrifft die Menschen in der unmittelbaren Umgebung des zerstörten Kraftwerks, also vor allem die Aufräumarbeiter. Gefährliche Strahlung für die Allgemeinbevölkerung geht vor allem von kleinen radioaktiven Partikeln aus, die mit Rauch in die Atmosphäre geschleudert und von Winden verbreitet werden. Sie setzen sich auf Obst, Gemüse und Feldern ab, dringen ins Grundwasser ein, verseuchen Meere, Seen und Flüsse und erreichen den menschlichen Körper über die eingeatmete Luft, die Nahrungskette und das Wasser. Die Verteilungsmuster dieser Partikelstrahlung hängen sehr stark von Windrichtung, Windstärke und Witterung ab.

Wir kennen das aus Tschernobyl: Während Orte in unmittelbarer Nähe zur Katastrophe relativ wenig Strahlung abbekommen konnten, wurden Ortschaften in großer Entfernung (beispielsweise die heute weißrussische Stadt Gomel) stark verstrahlt.

Etwas Ähnliches sehen wir jetzt in Japan: Die Strahlung hält sich nicht an die politisch vorgegebene 20 km-Zone, sondern verbreitet sich auch außerhalb dieser Zone unregelmäßig und unberechenbar. Wir müssen daher großflächig messen, wo radioaktiver Niederschlag heruntergekommen ist, die Ergebnisse der Messungen kartographisch erfassen und dementsprechend Evakuierungszonen definieren. Zum Teil wurden außerhalb der 20-km-Zone bereits Werte gemessen, die denen der Sperrzone um Tschernobyl ähneln, also Belastungen von über 500.000 Bq/m2 aufweisen - zum Teil mehr als 50 km entfernt von Fukushima Daiichi. Die unabhängigen Greenpeace-Messungen bestätigten dies jüngst.

Für die Menschen in diesen Gebieten besteht die Gefahr von Krebserkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Blindheit und Hirnschäden. Auch das Erbgut wird geschädigt, so dass es zu Unfruchtbarkeit, Missbildungen bei Kindern und Fehlgeburten kommen kann. Dies sind die Erkenntnisse zahlreicher epidemiologischer Studien aus der Sowjetunion und Europa nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl.

Online-Redaktion: Welche Maßnahmen von Regierungsseite hält die IPPNW für notwendig?

Alex Rosen: In der Medizin muss vor der Therapie die Diagnostik kommen. Ohne belastbare Messergebnisse ist es schwer, adäquate Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung vor Strahlenschäden zu treffen. Die Regierung muss also darauf drängen, dass es mit der Verheimlichung relevanter Daten und Erkenntnisse, wie wir es in den vergangenen zwei Wochen erlebt haben, ein Ende hat. Unabhängige Strahlenforscher müssen Messungen durchführen und interpretieren können. Bislang blieb dies den Kraftwerksbetreibern und der atomenergiefördernden IAEA vorbehalten.

Bis zum Erhalt dieser Daten muss vom schlimmsten Fall ausgegangen werden und müssen vor allem sehr strahlenempfindliche Menschen, also Schwangere, Säuglinge, Kinder, Schwerkranke etc. großzügig evakuiert werden. Die Empfehlung, eine pragmatische Evakuierungszone von 80 Kilometern um das Unglückskraftwerk herum zu errichten, erscheint dabei erstmal plausibel. Auch sollten Nahrungsmittel und Trinkwasser intensiv auf Strahlung getestet und großzügig aus dem Verkehr genommen werden. Die politisch definierten Grenzwerte taugen nicht zur gesundheitlichen Prävention von Strahlungsschäden.

Online-Redaktion: Wie wird eine Verstrahlung ärztlich behandelt?

Alex Rosen: Bei Strahlung, die eher von außen zugefügt wurde (also Gamma-Strahlung oder hochdosierte Beta-Strahlung wie bei den drei Männern mit dem radioaktiven Wasser in den Stiefeln) kann es zu schweren Verbrennungen kommen, die wie gewöhnliche Verbrennungen behandelt werden müssen, also Wundversorgung, Flüssigkeits- und Eiweißsubstitution, bei großflächigen Verbrennungen Schocktherapie und Intensivbetreuung.

Bei Partikelstrahlung (also von eingeatmeten radioaktiven Partikeln in der Luft, oder ingestierten Partikeln in Wasser und Nahrung) ist es wichtig zu wissen, um welche Art von Partikeln es sich handelt. Manche (z.B. Iod oder Caesium) kann man durch Flüssigkeitsinfusionen schneller aus dem Körper ausschwemmen und so die innere Bestrahlung reduzieren, andere (z.B. Strontium) bleiben im Körper, egal was man macht.

Bei der akuten Strahlenkrankheit sind vor allem schnell teilende Gewebe betroffen, also Haut, Schleimhäute und die Blutzellen im Knochenmark. Blutige Durchfälle und Erbrechen müssen mit hochdosierten Infusionen behandelt werden. Infektionen müssen, da das Immunsystem nicht mehr arbeitet, mit Isolation und Antibiotika verhindert werden. Man muss rote Blutkörperchen und Blutplättchen mit Transfusionen ersetzen. Wenn sich das Knochenmark ab einer gewissen Strahlendosis nicht mehr erholt, können Knochenmarktransplantationen nötig sein. Es kann durch akute hohe Strahlung auch zur Erblindung und zu Hirnschäden kommen. Ungeborene Kinder im Mutterbauch reagieren sehr empfindlich auf Strahlung und können sterben.

Bei den Langzeitschäden sind vor allem Krebserkrankungen von Bedeutung. Diese müssen spezifisch behandelt werden (Leukämie mit Chemotherapie, Schilddrüsenkrebs mit OP, Bestrahlung und Chemotherapie, Darmkrebs mit OP und ggf. Chemotherapie). Auch kam es bei den Liquidatoren von Tschernobyl zu überproportional vielen und häufigen Herzkreislauferkrankungen und zu psychischen Erkrankungen, Depressionen und Suizidalität, die einer Psychotherapie bedürfen.

Online-Redaktion: Wie schätzt ihr die Lage für die Schichtarbeiter in der Anlage ein?

Alex Rosen: Diese Menschen erhalten zurzeit innerhalb weniger Tage ein Vielfaches ihrer vorgeschriebenen Jahreshöchstdosen. Diejenigen, die Dosen im Bereich von mehreren hundert MilliSievert ausgesetzt sind, werden ein drastisch erhöhtes Krebsrisiko haben. Bei den Tschernobyl-Arbeitern wurden um 20 Prozent erhöhte Krebsraten gefunden. Auch ist ihr Risiko für Herzkreislauferkrankungen, Blindheit, Hirnschäden und Unfruchtbarkeit erhöht.

Man muss dabei bedenken, dass sich viele der relativ gering klingenden Dosisangaben auf die aufgenommene Dosis pro Stunde beziehen. 100 Mikrosievert (0,1 Millisievert) pro Stunde summieren sich jedoch an einem Tag zu 2,4 Millisievert Gesamtdosis. Das ist die Menge, die man normalerweise in einem Jahr durch natürliche Strahlung erhält. Bekommen die Arbeiter Strahlung von mehr als 1000 Millisievert ab, besteht die Gefahr einer akuten Strahlenkrankheit mit den oben beschriebenen Symptomen. Je mehr Strahlung sie erhalten, umso geringer ist ihre Überlebenschance. Schon ab 5000 mSv Strahlungsdosis überlebt nur noch jeder zweite, bei 10.000 mSv besteht keine Überlebenschance mehr. Dies alles wissen wir aus den epidemiologischen Studien der Tschernobyl-Aufräumarbeiter, von denen viele bereits vor ihrem 50. Lebensjahr verstarben. Von den anderen sind mehr als 90 Prozent heute krank.

Online-Redaktion: Ist eine Langzeitprognose über die gesundheitliche Gefährdung der Bevölkerung möglich?

Alex Rosen: Nach Tschernobyl sind umfrangreiche epidemiologische Studien erschienen, die versuchen, die Gesundheitseffekte auf die Bevölkerung abzuschätzen. Die Hälfte der Radioaktivität, die durch Tschernobyl verbreitet wurde, ging ja über Europa herunter. Ungefähr ein Drittel betraf die Ukraine, Russland und Weißrussland und der Rest verteilte sich über den Rest der Welt.

Aufgrund des Unfallmechanismus und der Bauweise der Reaktoren in Fukushima ist derzeit nicht davon auszugehen, dass größere Mengen Radioaktivität in hohe Luftschichten geschleudert werden, so dass der Schaden räumlich begrenzter verlaufen dürfte. Allerdings sind in Japan Millionen von Menschen potentiell durch radioaktiven Niederschlag und radioaktive Verseuchung von Lebensmitteln, Meer- und Trinkwasser betroffen.

Es wird geschätzt, dass die flächenmäßige Verstrahlung der Bevölkerung nach Tschernobyl mehrere zehntausend zusätzliche Krebserkrankungen zur Folge hat (allein 50.000 zusätzliche Fälle an Schilddrüsenkrebs werden erwartet, das Lebensrisiko in den am meisten betroffenen Regionen in Weißrussland beträgt ca. 33 Prozent). Zusätzlich sind in Europa ca. 10.000 zusätzliche Missbildungen bei Neugeborenen und 5.000 zusätzliche Fehlgeburten (sowie eine hohe Dunkelziffer an zusätzlichen Abtreibungen) durch die Strahlung zu erwarten.

Eine genaue Prognose für die japanische Bevölkerung (sowie die Menschen in China, Korea, den Philippinen, Alaska und Hawaii) ist schon deshalb nicht möglich, weil uns derzeit weder die genauen Mengen an Radioaktivität noch ihre Verteilungsmuster vorliegen. Auch wissen wir nicht, wie lange und in welchem Umfang noch Radioaktivität frei werden wird.

Dass die Katastrophe von Fukushima letztendlich vielleicht sogar mehr gesundheitliche Schäden anrichtet als das Rektorunglück in Tschernobyl, ist zur Zeit zumindest plausibel - schon allein weil wir es nun mit sechs statt einem Reaktor zu tun haben, die kritisch sind, weil aus Reaktor 3 offenbar hochgiftiges Plutonium austritt und weil die Bevölkerungsdichte in Japan um ein Vielfaches höher ist als in der Sowjetunion. Wir können nur das Beste hoffen, auch wenn wir wohl das Schlimmste befürchten müssen.

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