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Greenpeace hat einen Zug mit Mais abgefangen. Auf einem  Transparent steht "Stoppt Genmais" und es zeigt einen Maiskolben, auf dem das Wort "genetisch verändert" auf Spanisch durchgestrichen ist. Neben dem linken Transparent ist ein:e Greenpeace-Kletterer:in zu sehen.
© Greenpeace / Daniel Beltrá

Cancún-Tagebuch

Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Cancún, auf der Yucatan-Halbinsel im Süden Mexikos, war bis Anfang der 70er ein kleines Fischerdorf. Im Atlas erst gar nicht eingezeichnet. Seit 1974 hält Cancún, was der Reiseführer verspricht: Sun & Fun in einer Super-Ferienfabrik mit dem Ziel maximalen Devisengewinns. Heute ist Cancún für US-Amerikaner:innen das, was für Deutsche Mallorca ist – Jede:r kennt es, fast alle waren schon mal da. Cancún ist die Kulisse, die die WTO für ihre 5. Ministerkonferenz gewählt hat. Greenpeace war dabei.

Samstag, 6. September 2003 in Cancún

Cancún Downtown hat schon keinen mexikanischen Flair, aber die Zona Hoteleria ist der künstliche Retorten-Badeort pur. Die Zona Hoteleria, das ist eine Art Insel in Form einer gekrümmten 7, im Norden mit Zugang nach Cancún Downtown, im Süden führt die einzige Straße direkt zum Flughafen. Schlagader ist der Boulevard Kukulkán, an dem sich von Kilometer 1 bis 20 mehr als 110 Luxushotels aufreihen wie auf einer Perlenkette - alle mit direktem Zugang zum weißen Sandstrand.

Seitdem steht Cancún auch im Atlas. Deutsche Triband-Handys funktionieren hier, jedoch nicht in der Hauptstadt Mexiko City. Cancún ist eben Touri-Stadt. Ein tropisches Disneyland. Wer’s mag, fühlt sich hier wohl. Offensichtlich fühlen sich hier viele wohl. Vor allem US-Amerikaner. Tourist:innen in Badehose und Bikini füllen die Busse, meine Ohren fangen mehr englische als spanische Sprachfetzen auf - oder liegt das daran, dass Amerikaner:innen einfach lauter sprechen? Dabei beginnt die Hochsaison erst im Dezember. Noch ist Regenzeit.

Ich war noch nie an einem so schwülen Ort. Draußen will man alles ausziehen, was die gesellschaftlichen Schranken gerade so zulassen, drinnen ist der Pulli Waffe gegen air conditioning und Ventilatoren. Der Schritt von drinnen nach draußen ist, als ob man in ein Tropen-Gewächshaus eintritt: Auf der einen Seite der Tür beschlägt die Brille, auf der anderen Seite der Tür lässt die zugige Klimaanlage die verschwitzte Haut frösteln.

Schwimmen ist die einzige Möglichkeit, vor der Schwüle zu fliehen: wahlweise im dunkelblauen Swimming-Pool oder im mittelblauen kristallklaren Karibikwasser vor hellblauem Himmel mit imposanten bis bedrohlich wirkenden tropischen Quellwolken.

In Cancùn findet die 5. Ministerkonferenz der WTO statt. Hier wird knallharte Politik gemacht. Zwischen die Touris reihen sich immer mehr NGO-Vertreter:innen, eine bunte Mischung aus Leuten mit Birkenstock-Sandalen und Leinenkleid bis zur schwarzen Nadelstreifenhose. Meist genutzter Rucksack: der mit dem Logo vom Johannesburg-Gipfel 2002. Offenbar erkennen immer mehr NGOs, die sonst für Umweltschutz, Menschenrechte und Nord-Süd-Gerechtigkeit kämpfen, die WTO als mächtigen Gegner. Die Barrikaden werden täglich höher, die Polizeipräsenz größer ...

Sonntag, 7. September 2003 (Mittag)

Die Palmen der Hauptstraße sind seit heute umgeben von kleinen Blumenbeeten. Da die Palmen aber mitten auf dem schmalen Bürgersteig stehen, ist dieser durch die Blumenbeete komplett unterbrochen – und die Deko für die internationalen Delegierten schon zertreten, bevor sie anwachsen konnte...

Die Busse nach Cancún Downtown brauchen mittlerweile eine Stunde - normalerweise dauert das eine Viertelstunde. Der Grund: Stau. Die einzige Straße nach Downtown ist jetzt einspurig. Es gibt mehrere Absperrungen, Kontrollpunkte für die nächsten Tage. Ein Treffen im Stadtzentrum, zum Beispiel mit anderen NGOs, wird damit zu einem Unterfangen, für das man einen halben Tag einplanen muss.

Unser Greenpeace-Büro ist mittlerweile zusammen mit dem Konferenzzentrum komplett von roten Stahlzäunen umgeben. Drei Tage vor Beginn der WTO-Konferenz kommen wir schon nur noch mit speziellen Ausweisen in unser eigenes Büro.

Das Konferenzzentrum selbst sollte schon vor Tagen für Akkreditierte öffnen. Aber täglich heißt es manana- laut Duden eigentlich die Übersetzung für morgen. Hier heißt das eher irgendwann. Angeblich liegt der Grund darin, dass die Organisatoren fundamentale Probleme mit der Stromversorgung haben: Das Konferenzzentrum und die umliegenden Gebäude hatten einen Stromausfall, weil die Stromleitungen für die Energiefressende WTO-Konferenz offenbar nicht ausgelegt sind. Nachtarbeit für die Technik...

Cancún erwartet 5000 Polizist:innen. Offenbar reichen mexikanische Kräfte dafür bei weitem nicht aus: Nur etwa 3000 Polizist:innen werden aus Mexiko sein, die anderen 2000 kommen aus dem Ausland - aus den USA?

Die mexikanische Zeitung Novedades veröffentlichteheute auf der Titelseite ein Profil eines Globalisierungskritikers: Demnach sind sie jung - nicht älter als 30 Jahre, professionell, sprechen viele Sprachen, wissen viel über internationale Politik, sind fasziniert von indigener Kultur, wohnen in teuren Hotels, essen in guten Restaurants, bezahlen mit Kreditkarten - und arbeiten wie Greenpeace. Aha.

Dienstag, 9. September 2003 - Rien ne va plus

Im wahrsten Sinne des Wortes - nichts geht mehr in Cancún. Einen Tag vor der WTO-Ministerkonferenz, beherrscht die Sicherheit den mexikanischen Badeort. Die vergangenen drei Tage hat sich das vormals entspannte Strandparadies zu einem Hochsicherheitstrakt gewandelt. Doch hier funktioniert es umgekehrt, die Insassen sollen von der Außenwelt geschützt werden. Kein Bürgersteig oder Platz, der nicht mit Zäunen abgeriegelt ist.

An der Küste nehmen die wartenden Kriegsschiffe Position ein und die freundlichen Verkehrspolizisten sind endgültig dem Militär gewichen. Ohne den Pass, der Journalist:innen und Delegierte als offizielle WTO-Teilnehmende ausweist, gibt es kein Durchkommen. Die rotgebrannten, mit Bikinis ausgerüsteten und durch Hotel-Armbändchen gekennzeichneten amerikanischen Touristen scheinen die Situation mit Gelassenheit hinzunehmen.

Während sich in der Hotel Zone alles auf die fünfte Ministerkonferenz einstellt, sitze ich im Bus und verlasse die Zone, um an einem von der internationalen Bauernbewegung Via Campesina organisierten Kongress in der Innenstadt teilzunehmen. Während ich mit meinem internationalen Kolleg:innen angeregt im Bus plaudere, versuche ich nebenher mein mexikanisches Handy in den Griff zu bekommen.

Auf einmal mischt sich eine amerikanische Touristin in unser Gespräch: "Wohnen sie hier? Ach nein, aber wie kommt es dann, dass sie hier ihr Handy benutzen können?" Komisch, einigen Touristen scheint es zu gelingen, den Ausnahmezustand anlässlich der WTO-Ministerkonferenz völlig zu ignorieren. Sonst hätte ihnen auffallen müssen, dass es in der Zone nur so von Delegierten und Journalisten, ausgestattet mit Handys und WTO-Ausweisen wimmelt. Aber was ein richtiger Tourist ist, lässt sich dadurch wohl nicht den wohlverdienten Urlaub vermiesen.

Nach drei Stunden bei den Veranstaltungen der Landwirte erreicht mich die Nachricht, niemand käme mehr von der Innenstadt in die Hotelzone. Alle Zufahrtsstraßen seien abgeriegelt. Oh je, dabei habe ich in einigen Stunden bereits den nächsten Termin. Also nichts wie das wirkliche Leben verlassen und zurück in die Zone. Immerhin, es gibt noch Busse, die in meine Richtung fahren, voll gepackt mit Mexikanern auf dem Weg zur Arbeit in die Bettenburgen am Strand. Doch die Freude währt nicht lange.

Tatsächlich ist die Zufahrtsstraße zur Hotel Zone abgeriegelt. Niemand kommt mehr durch. Klar, nicht ohne Grund wurde Cancún als Veranstaltungsort der WTO Konferenz gewählt. Der ideale Ort: Ein Küstenstreifen umgeben von Wasser mit nur einer Zufahrtsstraße.

Ist diese erst einmal abgeriegelt, brauchen die Delegierten der WTO sich vor nichts mehr zu fürchten. Keine bösen Überraschungen von aufgebrachten Landwirt:innen oder anderen Menschen, die nicht einsehen wollen, dass der so genannte Freihandel ihre Lebensgrundlagen zerstört. Stattdessen klimatisierte Räume, Restaurants bekannter internationaler Fast-Food und Slow-Food Restaurants - geschlossene Gesellschaft - Zutritt verboten.

Aber zurück und in den Bus. Es scheint nicht ganz aussichtslos zu sein. Immerhin fahren wir zwar nicht Richtung Zone, aber egal Hauptsache es bewegt sich was. Bei gut 35 Grad Hitze ist jeder Luftzug eine kleine Erlösung. Es stellt sich schnell raus, dass der Verkehr über den Flughafen umgeleitet wird. Man nähert sich der Zone sozusagen vom anderen Ende. Dieser Umweg verlängert die Fahrtzeit um circa eine Stunde - normalerweise, wäre da nicht der Stau.

Im Schneckentempo schleichen wir in Richtung des Ziels. An der Strecke werden weitere Zäune aufgebaut und Militärfahrzeuge setzen ihre einsatzbereiten Truppen ab. Kurz vor Einfahrt in die Zone werden alle öffentlichen Nahverkehrsbusse gestoppt und vom Militär durchsucht. Danach ist es geschafft. Mit einer Verspätung von fast drei Stunden erreiche ich mein Ziel. So auch die vielen mexikanischen Angestellten, die ja immerhin dafür sorgen müssen, dass den WTO-Teilnehmenden das Frühstück pünktlich serviert wird und die Toiletten sauber gehalten werden.

Doch es war nur der Anfang - erst morgen ist die Eröffnung der WTO-Ministerkonferenz.

Mittwoch, 10. September 2003 - Ziviler Widerstand im Hochsicherheitstrakt

Die Welt in Cancún ist jetzt eingeteilt in Klassen: Menschen mit blauen Badges (Delegierte der 146 WTO-Mitgliedsstaaten), Menschen mit weißen Badges (Organisationskommitte), Menschen mit grünen Badges (Presse), und die mit den orangen (NGOs). Die Farbe des Halsbandes entscheidet darüber, wie man behandelt wird und wo man hin darf.

Heute Morgen 10.00 Uhr in Cancún, 17.00 Uhr in Deutschland: die Eröffnung der 5. WTO-Ministerkonferenz.

Was für Aktionen kann es geben in einem Hochsicherheitstrakt? Eine Frage, die sich nicht nur NGOs, sondern auch Journalist:innen immer wieder stellen. Während der Eröffnungsrede von Supachai Panitchpakdi, dem Generaldirektor der WTO, vor einer halben Stunde in Cancún standen 40-50 Aktivisten im Auditorium auf, hielten Zettel hoch mit der Aufschrift undemokratisch, intransparent, überflüssig und beklebten sich den Mund mit Kreppband. Eine gemeinsame Aktion vieler NGOs. Für Greenpeace war Jürgen Knirsch dabei.

Doch es ging noch weiter: Als der mexikanische Außenminister Ernesto Derbez seine Rede beginnt, stehen etwa 30 Aktivist:innen auf, gehen auf den Gang und rufen shame (Schäm dich!, Schande).Die Security observierte alles mit Argusaugen, schritt aber nicht ein. Während das Podium den zivilen Widerstand schlichtweg ignoriert, ist die Presse dankbar für DAS Motiv zur Eröffnung der WTO-Konferenz. So far aus Cancún. Zurück nach Hamburg.

Wir trauern über den Tod von Herrn Lee Kyung-hae, dem früheren Präsidenten der Koreanischen Bauernvereinigung (Korean Advanced Farmers Federation).

Der Landwirt hat sich während der Proteste gegen die 5.WTO-Ministerkonferenz in Cancún/Mexiko an einer Barrikade das Leben genommen. Diese Barrikade hinderte Tausende von Landwirten aus der ganzen Welt daran, ihre Botschaft an die WTO-Delegierten zu übergeben. Für Lee Kyung-hae war sein Tod Teil eines langen Kampfes. Im Februar protestierte er alleine vor dem WTO-Sekretariat in Genf und erklärte: Hier in Genf vor dem Haupteingang der WTO bin ich zu dem Entschluss gekommen und schreie heraus, was so lange Zeit in mir kocht: Für wen verhandelt ihr hier eigentlich? Für die Menschen oder für euch selbst? (Das Zitat stammt aus einem Papier, das Lee hier in Cancún vor seinem Tod verteilt hat.)

Sein Tod in Cancún macht darauf aufmerksam, dass es bei den Verhandlungen auf der anderen Seite der Barrikaden nicht um Verhandlungstexte oder technische Details geht, sondern um Leben und Tod. Die WTO hat direkte Auswirkungen auf die Lebensumstände von Millionen Menschen dieser Welt.

Greenpeace hatte sich solidarisch dem Marsch von ViaCampesina angeschlossen. ViaCampesina ist eine Organisation von Landwirt:innen, mit der wir uns gemeinsam seit Jahren gegen genmanipulierte Organismen einsetzen.

Donnerstag, 11. September 2003 - Just say NO to GMO-Biosafety-Protokoll tritt in Kraft

Herzlichen Glückwunsch! Heute ist das Cartagena-Protokoll über biologische Sicherheit in Kraft getreten. Ab sofort können Staaten den Import von genmanipuliertem Saatgut oder Pflanzen verbieten - und zwar aus Vorsorge vor möglichen Gefahren für die Umwelt und Gesundheit. Ohne letzte wissenschaftliche Beweise. Einfach aus Vorsorge. Ein historischer Wendepunkt im Kampf für die Umwelt sowie die Rechte der Landwirte und Verbraucher. Das Biosafety-Protokoll ist im Rahmen der Konvention über die biologische Vielfalt entstanden und ist juristisch bindend. Just say NO to GMO (Sag nein zu genmanipulierten Organismen).

Doch die laufende US-Klage gegen den Anbaustopp von Gen-Pflanzen in der EU ist ein klarer Versuch, dieses Biosafety-Protokoll zu untergraben. Die WTO als politische Waffe für die Durchsetzung der Gentechnik und gegen das Vorsorgeprinzip.

14.30 Uhr, Pressekonferenz der USA

Der Raum war drückend voll. Die Weltmacht Nr. 1 spricht zur internationalen Presse. Plötzlich steht Alejandro Calvillo auf und erklärt: "Ich bin Alejandro Calvillo, Geschäftsführer von Greenpeace Mexiko. Ich möchte gegenüber der US-Regierung klar stellen, dass heute das Cartagena-Protokoll über biologische Sicherheit in Kraft tritt. Es bietet Regierungen die Möglichkeit, ihre Verbraucher, ihre Landwirte und ihre Artenvielfalt zu schützen."

Wir in Mexiko wollen unser Getreide, unsere Felder und unser Leben vor der Kontamination durch genmanipulierte Organismen aus den USA, von Monsanto, schützen. Mexiko ist das Ursprungsland von Mais. Hier liegt das Zentrum der Artenvielfalt. Das ist der Mais, den wir wollen. Mexikanischer Mais ist ein Gemeinschaftsgut für die Bevölkerung.

Andere Greenpeacer legten Mais aus Mexiko auf dem Podium aus, was die Sicherheitskräfte doch deutlich beunruhigte. Als die Sprecher auf dem Podium gerade ihren Mais mit den Händen zusammen geschoben hatten – da kamen schon Vertreter von der Bauernbewegung Via Campesin anach vorne und hielten Schilder hoch: "WTO kills farmers". Eine Erinnerung an den Tod von Lee Kyung-hae auf dem Bauernprotest gestern.

Die Reaktion der versammelten Presse war denkbar gespalten: "Get out! Get out!" rief ständig Guy De Joncquieres von der Financial Times, bis ein zweiter dagegen hielt: "Stay in! Stay in!" Als die beiden realisierten, dass sie nicht ganz einer Meinung waren, zogen sie in Erwägung, ihren Streit draußen zu klären - wie zwischen richtigen Männern...

Nach der Pressekonferenz versammelte sich eine Traube von Journalist:innen um Alejandro Castillo und Marcelo Furtado: Ja, die USA versuchen, über die WTO das Biosafety-Protokoll zu untergraben!

Leider hat die Aktion auch ihre Schattenseite: Das war die letzte Pressekonferenz, zu der neben grünen Badges(Presse) auch orange (NGOs) zugelassen waren - wie die WTO am Nachmittag offiziell verkündete.

Samstag, 13. September 2003 - Blockade von WTO-Demonstranten gestürmt

Am 13. September, dem offiziell letzten Tag der WTO-Ministerkonferenz, steht die allgemeine Abschlussdemo auf dem Programm. Alle möglichen Organisationen - von der Bauernbewegung Via Campesina über die Umweltbewegung bis hin zum schwarzen Block der mexikanischen Anarchist:innen - sammeln sich langsam in der Innenstadt von Cancún. Denn innerhalb der abgesperrten Zone, in der die WTO-Konferenz tagt, ist das Demonstrieren unmöglich. Selbst Infomaterial wird von den Sicherheitskräften als Propaganda deklariert und schonmal beschlagnahmt.

Langsam setzt sich der Zug von circa 5.000 Menschen in Richtung Kilometer 0 in Bewegung. Hier beginnt die Hotelzone mit dem Konferenzzentrum und damit auch die Barrikaden. Gleich drei Reihen von circa drei Meter hohen Zäunen sollen die Protestierenden daran hindern, ihren Protest dort kundzutun, wo die Entscheidungen getroffen werden. Hinter den Zäunen warten Wasserwerfer und eine Armee von Polizist:innen.

Doch auch einige Demonstrierende scheinen bestens ausgerüstet. Masken oder Tücher verdecken ihre Gesichter, die Arme und Beine sind mit Schaumstoff gepolstert und in Einkaufswagen transportieren sie Stöcke, Eisenstangen und Holzlatten. Viele Organisationen haben immer wieder bekundet, dass es eine friedliche und gewaltfreie Demo sein soll. Doch die Stimmung ist geladen, alles scheint möglich.

Kurz vor der Absperrung kommt der Demonstrations-Zug zum Stehen. Es folgen Kundgebungen verschiedener Gruppierungen und immer wieder wird der Tod des süd-koreanischen Bauern Lee Kyung-hae erwähnt. Die Gruppe koreanischer Farmer, mit denen Lee angereist war, erklären uns den Zusammenhang seines Todes. In ihrer Kultur hat Lee keinen Selbstmord begangen, vielmehr hat er sein Leben für die Sache geopfert. Er sei einen Heldentod gestorben. Im Protest gegen die unfairen Handelsregeln der WTO.

Eine kleinere Gruppe bricht in Richtung Absperrung auf. An einem Teil des Zauns machen sich ausschließlich Frauen mit Werkzeug zu schaffen. Damit sie in Ruhe arbeiten können, halten männliche Aktivist:innen ihnen den Rücken frei. Sie erklären jedem, der nicht weiblich ist und sich an dem Geschehen beteiligen will no, no hombres dies ist eine Frauen-Aktion. Langsam aber sicher, schneiden die Frauen einen Zaun nach dem anderen durch. Schließlich ist der Zugang zur anderen Seite an mehreren Stellen offen. Doch die Löcher werden von den Polizist:innen mit Eisengittern von der anderen Seite verbarrikadiert.

Gleich nebenan gibt man sich erst gar nicht mit Löchern ab: Angeleitet von den koreanischen Farmern werden an dem Zaun dicke Stricke befestigt. Dann heißt es zurücktreten und hauruck. Der erste Zaun fällt unter dem tosenden Applaus der Menge. Innerhalb der nächsten halben Stunde werden auch Zaun Nummer zwei und drei im Seilzieh-Verfahren (ein koreanischer Nationalsport zum Erntedankfest) niedergerissen. Der Durchgang ist frei -abgesehen von mehreren Hundertschaften Polizist:innen und den Journalist:innen, die sich zwischen der Polizeiblockade und den Demonstrierenden positioniert haben.

Die Stimmung ist aufgeheizt. Was nun? Einfach in Richtung Polizei stürmen? Doch da verschaffen sich die südkoreanischen Landwirt:innen Gehör und es raunt durch die Menge: hinsetzen, es soll eine Zeremonie für den verstorbenen Landwirt Lee geben. Alle hinsetzen. Widerstrebend setzten sich die ersten Demonstrierenden. Nach wiederholter Aufforderung gehen endlich auch die Journalist:innen in die Hocke. Jetzt wird um Ruhe gebeten und das unmögliche geschieht. Zweitausend Demonstrierende schweigen. Schweigen für Lee, der hier in Cancún zum Symbol des Widerstands, aber auch zum Symbol für die zerstörerische Politik der WTO geworden ist. We Are All Lee - wir stecken alle in Lees Haut. Lee ist kein Einzelfall, sondern steht für das Schicksal Tausender Kleinbauern in den Entwicklungsländern, die durch die freien Handelsregeln der WTO in den Ruin getrieben werden.

Nach zahlreichen Ansprachen ist es dann Zeit für die eigentliche Zeremonie: Burn WTO, down WTO ruft die Menge im Chor und die koreanischen Landwirt:innen verbrennen symbolisch zwei Vogelscheuchen mit der Aufschrift WTO. Plötzlich ist da auch eine US-Flagge, die den Flammen zum Opfer fällt. Keiner der Anwesenden trauert darum. Immerhin sind die USA zusammen mit der EU dafür verantwortlich, dass hier in Cancún Vereinbarungen auf Kosten der Entwicklungsländer und deren Bevölkerung getroffen werden sollen.

Doch die Stimmung ist entspannt. Zudem sind die Koreaner:innen noch lange nicht fertig. Sie haben ganz klar die Regie dieser Demo übernommen. Als nächstes werden weiße Blumen an die Menge verteilt. Mit Unterstützung von dem immer noch vermummten schwarzen Block: Blumen für Lee, Blumen gegen die Übermacht der Polizei, Blumen für eine friedliche Demo und Blumen gegen die zerstörerische Politik der WTO. Eine extra aus den USA angereiste Protest-Band spielt zum Tanz auf und der Marsch neigt sich dem Ende. Wir haben unseren Punkt gemacht: Zäune können unseren Protest nicht aufhalten! Es lebe der Widerstand - dabei konnten wir noch nicht wissen, was uns am nächsten Tag erwartet.

Sonntag, 14. September 2003 - Scheitern, Weiterverhandeln, pünktliches Ende am Sonntagmittag?

Die Lage ist undurchsichtig. Ein Gerücht wird durch das nächste ersetzt, jede Einschätzung wird durch eine gegenteilige abgelöst. Vor den Monitoren, auf denen im Convention Center die Termine der Pressekonferenzen und -briefings angekündigt werden, drängen sich die Menschen. Sie hoffen, dass der Bildschirm mehr als Zeitpunkt, Raum und Veranstalterverkündet.

Unterhalb des Bildschirms tauschen die Menschen ihre Informationenaus. Gerade eben hätten Vertreter der Delegationen von Kenia und Uganda vor laufenden Kameras erzählt, das die Verhandlungen gescheitert seien, berichtet ein Journalist. Es gäbe aber eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters, wirft ein anderer ein, in der ein Delegierter aus Zimbabwe zitiert wird, dass die Entwicklungsländer der Europäischen Union noch einmal drei Stunden Zeit gegeben hätten, einen neuen Verhandlungsvorschlag vorzulegen. Also doch weitere Verhandlungen?

So richtig will es noch niemand glauben, dass es vorbei ist -und dass die Verhandlungen gescheitert sind. Dabei gab es genug eindeutige Vorzeichen -sprich Statements - von Indien, Malaysia, Brasilien und einigen afrikanischen Staaten. Diejenigen, die bereits auf der letzten WTO-Ministerkonferenz in Doha dabei waren, werfen ein, dass auch in Doha alle Vorzeichen auf Scheitern standen, und am Ende gab es doch noch eine Einigung.

Doch je mehr Menschen man spricht, um so klarer wird es: die WTO-Ministerkonferenz in Cancún ist gescheitert. Die WTO-Mitglieder konnten bei den neuen Themen wie Investitionen und beidem alten Streitthema Landwirtschaft keine Kompromiss-Linie finden. Cancun wird nun als tropisches Seattle in die WTO-Geschichte eingehen.

Nun kann man sich schon auf die zahllosen Analysen freuen, die in den nächsten Tagen und Wochen erscheinen werden, um die Hintergründe des Scheiterns von Cancún zu durchleuchten.

Jawohl, es ist ein Scheitern der EU, die ihre Liberalisierungsagenda bei den Themen Investitionen, Handelserleichterungen, öffentliches Beschaffungswesen, Wettbewerb vorantreiben wollte. Gleichzeitig war sie jedoch nicht bereit, im Agrarbereich weitreichende Zugeständnisse zu machen.

Jawohl, es ist ein Erfolg der Entwicklungsländer, die dem Druck standgehalten und sich nicht haben vereinzeln lassen. Und Jawohl, es ist ein Erfolg der vielen Organisationen aus aller Welt, die mit ihren Aktionen, Veranstaltungen, Lobby-Gesprächen, Presseerklärungen und -kontakten den Entwicklungsländern den Rücken gestärkt haben.

Ein Erfolg - aber auch eine Herausforderung, denn die Arbeit beginnt erst jetzt. Wie kann eine Alternative zur WTO aufgebaut werden? Wie kann verhindert werden, dass einzelne Entwicklungsländer- zum Beispiel durch Kürzung der Entwicklungshilfe - bestraft werden? Wie können die Widersprüche zwischen den verschiedenen Entwicklungsländern gelöst werden? Wie kann tatsächlich der Welthandel gerecht gestaltet werden? Viele Fragen und viele Aufgaben, die Cancún uns mit auf den Weg gibt.

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