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Mit dem ROV (Remote operated vehicle) wird das Minguray Korallenriff untersucht, Mai 2005
Gavin Newman / Greenpeace

Entdeckung einer verborgenen Welt

Das Mingulay-Kaltwasserkorallenriff liegt 30 Meilen westlich vor Schottland und zehn Kilometer östlich der Hybriden im Nordatlantik. Es existiert schon seit Tausenden von Jahren - und ist praktisch völlig unbekannt. Möglich wurde die Besichtigung mittels eines mit Videokamera ausgestatteten Remote operated vehicle (ROV). Dabei handelt es sich um ein kleines unbemanntes U-Boot, das von Deck eines Mutterschiffes ins Wasser gelassen wird. Letzteres war in diesem Fall die MV Esperanza, der über 70 Meter große Eisbrecher und jüngste Vertreter der Greenpeace-Flotte. Verbunden sind Schiff und ROV über Kabel.

Die Expedition untersuchte den Aufbau des Riffes und dokumentierte darüber hinaus Schädigungen durch die Grundschleppnetzfischerei. Greenpeace setzt sich für ein Sofortverbot (Moratorium) der Grundschleppnetzfischerei ein. Die Netze der modernen Flotten wirken auf dem Boden der Ozeane wie Pflüge: zwei tonnenschwere und etliche Meter große Metallplatten stellen sich an beiden Seiten des Netzes in der Strömung auf und halten es offen. Der Meeresboden wird durch diese Scherbretter regelrecht abrasiert und eingeebnet. Was übrig bleibt, ist verwüsteter und somit öder Meeresboden.

Seit zwei Jahren ist das verwunschene Riff erst in den Seekarten eingezeichnet - Interesse daran hegen die Wissenschaftler des SAMS schon seit den späten 90er Jahren. Nun bot sich zusammen mit Greenpeace die Möglichkeit, diesen Lebensraum real zu erkunden. Dies war mit der Hoffnung verbunden, auch an biologisches Material zu gelangen - für anschließende Monate der Auswertung. Mit an Bord: der Tiefseepionier Dr. John Wilson. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit dem Lebensraum Kaltwasserkorallenriff. Was er auf der Tour sah, warf einige seiner lang etablierten Theorien über Bord - und er bezeichnete das Mingulay-Gebiet erstmals als echtes Riff.

Die Esperanza stach vor Greenock (nahe Glasgow) am 12. Mai 2005 in See. Einige Delfine flankierten das Schiff bis auf das offene Meer hinaus. Das Equipment wurde einige Meilen vor Ailea Craig getestet. Hier befindet sich eine der größten Basstölpel-Kolonien der Welt. Das ROV wurde mit einem hoch auflösenden Sonar ausgestattet, welches eine verfeinerte Kartierung des Meeresbodens und vor allem des Riffes ermöglichte. Von Anfang an blieb es spannend, wie sich die Windverhältnisse entwickeln würden. Vor allem in Hinblick auf die Kürze der Zeit bangten alle an Bord um die Qualität der kommenden Bilder. Bei unruhiger See ist es unmöglich, das Schiff ruhig auf einem Punkt zu halten. So trieb einmal der Wind die Esperanza über das Verbindungskabel: Es wäre fast ein irreversibles Unglück geschehen, was das Ende des ROV und der gesamten Tour bedeutet hätte. Glücklicherweise war ein Taucher mit an Bord, der in der Nacht ins Wasser ging und den Greifer sowie die Videovorrichtung unter dem Schiff im Ruderbereich wieder frei machen konnte.

Nachdem diverse technische Probleme am ROV behoben werden konnten, starteten die ersten Testtauchgänge. In den Morgenstunden des 14. Mai erhielt die Crew dann erste wirklich klare Bilder in der nördlichsten Sektion des Mingulay-Riffs. Die Bilder wurden in Echtzeit auf die Esperanza übertragen, so dass die Beteiligten das Gefühl nicht los wurden, Teil der Entdeckung einer völlig fremden Welt zu sein. Riffstrukturen schwebten vorbei, die bislang nur in warmen und lichtdurchfluteten Flachwassermeeren der subtropisch-tropischen Klimazonen zu finden waren. Zwischen den Tauchgängen filmte die am Greifer befestigte Videokamera die vielfältige Lebensgemeinschaft aus Schwämmen, Korallen und Seesternen, als die Esperanza langsam über einen Grat des Riffs hinwegdümpelte. Im Laufe der Zeit kam ein Querschnitt der verschiedensten Lebensgemeinschaften zustande. Schlammige Ebenen, mit Federseesternen, Sedimentwürmern, Seeigeln und Hummern bedeckt, wechselten sich ab mit steilen Felswänden, Korallengärten und sandigen Bänken voller Schwämme, die offensichtlich die flachen Gebiete entlang der höchsten Kämme dominieren.

Über die Tour verteilt holte der Greifer wertvolle Korallenproben nach oben, bis das ganze Korallenhotel (spezielles Aquarium an Bord) gefüllt war. Die Auswertungen dauern bis heute an. Oft genug herrschten gute Konditionen und damit klare Sicht, um vorsichtig wirklich nur die erforderlichen Proben mit minimaler Störung für diesen Lebensraum zu entnehmen.

Staunen bereitete eine völlig neue morphologische Ausprägung der Steinkorallenart Lophelia pertusa, die der Tiefe entsprechend normalerweise eine weiße Färbung hat. Diesmal aber wurde sie in leuchtendem Pink gefunden. Warum das so ist und wie der Unterschied zustande kommt, liegt zwar nicht mehr im Dunkel der tiefen See, konnte aber auch noch nicht erklärt werden.

Lophelia pertusa ist der wichtigste Riffgestalter bis in Tiefen von über 1.000 Metern. Kaltwasserkorallenriffe stellen in der Regel die umfangreichsten und fruchtbarsten biologischen Strukturen der tiefen Schelfe dar. Wirbellose Tiere, normalerweise nicht größer als 10 Millimeter, sind der Beginn. Es handelt sich hierbei um Korallenpolypen mit einem sackförmigen Körper und einer von Tentakeln umgebenen Mundöffnung. Zum Nahrungsfang strecken sie die mit Nesselkapseln ausgestatteten Fangarme aus und fischen so Plankton aus dem Wasser – ihre Hauptnahrung.

Mit Hilfe von Symbionten, zumeist einzelligen Algen, ist es den Polypen möglich, den aus Meerwasser und Plankton aufgenommenen Kalk abzusondern. Daraus bauen die Polypen ihre becherförmigen Wohnhöhlen. Diese Korallenstöcke zusammen genommen bilden das Riff und sind die Heimat aller Folgegenerationen von Polypen, die dafür sorgen, dass das Riff immer größer und größer wird.

So sind die Riffe im Nordatlantik vorsichtigen Schätzungen zufolge über 200.000 Jahre alt, wobei sich durch Fossilienfunde sogar einzelne Riffgebiete bis in das Oligozän vor rund 30 Millionen Jahren zurück verfolgen lassen. Möglicherweise gehören diese uralten tierischen Wohngebiete jedoch schon bald der Vergangenheit an: Meeresverschmutzung und die Hochseefischerei mit ihren schweren Schleppnetzen haben den Kaltwasserriffen bereits schwer zugesetzt - genau wie den Unterwasserseebergen, den zweiten Oasen der Tiefsee. Dort sammeln sich Nährstoffe und Lebensformen durch spezielle Strömungsmuster. Auch sie sind hochgradig in Gefahr.

Die Minguray-Tour erbrachte den Wissenschaftlern wertvolle Kenntnisse über diesen fragilen, sehr raren und kostbaren Lebensraum. So hoffen die Wissenschaftler denn auch, durch die Erforschung der Riffe einen Beitrag zu deren Schutz leisten zu können.

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