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Sergey Kechimov steht am Ufer des Imlorsees; neben ihm ist ein Birkenhain zu sehen.
Denis Sinyakov / Greenpeace

Ein Mann gegen Russlands Ölindustrie

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Um den Imlorsee in der westsibirischen Taiga ranken sich viele Legenden. Steinerne Menschen, so heißt es, würden auf seinem Grund wohnen, und die Götter stiegen durch seine Fluten auf die Erde.

Sergey Kechimov kann all diese Legenden erzählen. Er gehört zum Volk der Chanten, und wie Generationen seiner Vorfahren ist er Schamane – der Hüter des Imlorsees. Den kennt er wie niemand sonst: seine Mythen, die Tiere darin, die Pflanzen am Ufer. Und er kennt das Öl, das schillernd auf der Oberfläche des heiligen Sees treibt, dort träge in den Wellen schwappt.

Denn in den 1980er Jahren kamen die Ölkonzerne an den Imlorsee. Der liegt in der Region um die 300.000-Einwohner-Stadt Surgut, im autonomen Kreis der Chanten und Mansen. Die Ölleute forschten und bohrten und zogen Pipelines quer durch das Land der Chanten. Eine Million Tonnen Öl, so schätzt die russische Firma Surgutneftegas, lagern unter dem See. An dessen Ufern selbst haben die Bohrungen noch nicht begonnen, doch als im Juli dieses Jahres eine ölführende Pipeline in der Nähe brach, wurde das Land buchstäblich mit Öl überflutet. Teile davon dümpeln noch immer auf dem See.

Feuer und Frevel am heiligen See

Dabei ist der Imlorsee für die Chanten ein heiliger Ort. Jeder ihrer Klans hat solch einen speziellen Platz: geschaffen von der Natur, für reine Gedanken und friedvolle Einkehr, so sagen sie. Dieses Heiligtum hütet Sergey, zelebriert Zeremonien am Seeufer, und eigentlich sollte er auch darüber wachen, dass niemand an den heiligen Stätten Feuer macht, Bäume fällt, jagt, fischt oder irgend etwas tut, das die Geister dort stört.

In den lokalen Gesetzen sind diese Tabus verankert, doch als die Ölfirmen kamen, schienen die plötzlich nicht mehr zu gelten. Die Arbeiter rodeten den Wald und zerstörten die Wiesen, auf denen die Chanten ihre Rentierherden weideten. „Manchmal erwische ich am See einen russischen Wilddieb beim Fischen“, erzählt Sergey. „Ich sage ihm: Du kannst hier nicht fischen. Solche Aufeinandertreffen enden immer mit Beschimpfungen und Beleidigungen.“

Sergey schrieb unzählige Beschwerdebriefe an Surgutneftegas, doch deren Arbeiter gruben weiter nach Ölquellen; sie bauten Pipelines, entfachten Feuer, verpesteten die Luft und vertrieben die Chanten. Die Menschen, der Tradition nach Rentierhirten, fanden keine Weiden mehr für ihre Tiere. Die Dörfer verödeten; nur Sergey und seine Frau Capitalina blieben. Sie sind heute die einzigen ihres Volkes, die noch am Imlorsee leben.

Ein alter Schamane gegen ein korruptes System

Wie lange noch, das kann Sergey nicht sagen. Denn im Januar dieses Jahres eröffnete das Amtsgericht der Region Surgut ein Verfahren gegen ihn. Die Anklage lautet versuchte Tötung; Sergey habe sein Gewehr auf zwei Ölarbeiter gerichtet und gedroht, sie zu erschießen. Sagt der Richter. Tatsächlich erschossen habe er deren Hunde – weil die ihn und seine Rentiere angriffen. Sagt Sergey. Das Halten von Hunden in den Ölfeldern ist verboten; das Gesetz schreibt vor, streunende Katzen und Hund in der Region zu erschießen.

Kurz nach dem Zwischenfall kamen Männer in Polizeiuniform. „Sie schlugen mich“, erzählt Sergey. „All meine Rippen waren gebrochen; sie sind immer noch nicht geheilt.“ Die Beamten legten Sergey, der den Dialekt der Chanten spricht, Papiere auf russisch vor und forderten ihn auf, zu unterschreiben. Was er unterzeichnet hatte, war ein Schuldgeständnis, fand sein Anwalt später heraus.

Wird Sergey schuldig gesprochen, muss er für zwei Jahre ins Gefängnis. Eine Verurteilung ist wahrscheinlich, denn die Quote, mit der russische Gerichte Angeklagte schuldig sprechen, liegt bei nahezu hundert Prozent. Zudem besitzen die staatlichen Ölfirmen einen enormen Einfluss in der Region. 

Sergey weiß, dass er ihnen im Weg ist: Ein alter Mann, der einen heiligen See beschützen will – ein Gewässer, unter dem der mächtige Ölkonzern Surgutneftegas ein Wirtschaftsgut im Milliardenwert weiß. Und das will er mit allen Mitteln fördern.

Greenpeace vor Ort – damit die Welt das dreckige Ölgeschäft sieht

Wie dreckig diese Mittel sind, dokumentierten Greenpeace-Mitarbeiter jüngst bei einem Besuch im autonomen Kreis der Chanten und Mansen. Dort zeigte Sergey ihnen, was der Ölunfall im Juli angerichtet hat – und was die Ölkonzerne in den endlosen Wäldern der Taiga zu verstecken hofften: Wiesen, die der Ölschlamm braun gefärbt hat, Bäume, an deren Stämmen ein dunkler Film klebt, und eben jene regenbogenfarbenen Schlieren, die in den Wellen des Imlorsees treiben. Diese Bilder und Sergeys Geschichte sollen um die Welt gehen; die Menschen sollen sehen, welch schmutziges Geschäft die Ölfirmen betreiben. So unterstützt Greenpeace gemeinsam mit lokalen Aktivisten Sergey bei seinem Rettungskampf für den See.

An dessen Ufern haben Wilderer ihre Jagdhütten errichtet, drumherum verstreuten sie Zigarettenkippen und anderen Müll. Und immer enger kreisen die Ölfirmen den See mit ihren Bohrungen ein.

Wenn sie seine Ufer erreichen, wird es vielleicht keinen Hüter mehr geben, der über die heiligen Stätten wacht. Doch Sergey darf seinen Kampf nicht verlieren. Denn dann wird es Öl sein, das durch die Fluten des Imlorsees zur Erde steigt. Die Götter werden den entheiligten Ort dann wohl für alle Zeiten verlassen. 

  • Sergey Kechimov steht inmitten einer ölüberschwemmten Landschaft

    Landschaft in Öl

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  • Öllache, in der sich Sergey Kechimov  spiegelt

    Geschundene Erde

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  • Sergey Kechimov inmitten seiner Rentiere, die er füttert

    Tiere ohne Weideland

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  • Sergey Kechimov und seine Frau Capitalina in ihrem Haus. Sie beugen sich über eine Zeitung.

    Allein

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  • Ein Wohnhaus im autonomen Kreis der Chanten und Mansen, danebenein Gewächshaus. Vor den beiden Häusern liegt ein schlammiges Grundstück voller Pfützen

    Schlamm statt Garten

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  • Birkenstämme, an denen unten ein brauner Ölfilm klebt

    Zeugen der Katastrophe

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  • eine Greenpeace-Mitarbeiterin mit Atemmaske hockt vor einer einer Ölpfütze. Sie hat die Finger hineingetaucht; an ihrem weißen Handschuh klebt Öl.

    Erkundungen vor Ort

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  • Luftaufnahme der Rosneft-Ölförderanlage, drumherum abgeholzter Wald und Öllachen. Aus einem Schornstein züngelt eine Gasflamme.

    Wald zu Wüste

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  • Ein kleiner See, bedeckt von einem in den Regenbogenfarben schillernden Ölfilm; vorn im Bild liegen einige Baumstämme.

    Beängstigendes Farbenspiel

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